Bitte einmal die Erde retten!

■ Erfolgreiches Bürgerengagement: Ein Projekt im Rahmen der Agenda 21 verändert das öffentliche Leben im ostfriesischen Leer

Eine Informationstafel über insektenvertilgende Vögel wird diskutiert. „Eine Amsel ist ganz schlecht“, erregt sich die Baumexpertin Frau Boekhoff. „Versuchen wir's doch mit dem Schnepper“, schlägt Vogelkundlerin Goldberg vor. „Aber welcher Schnepper?“, überlegt die Sprecherin des örtlichen Naturschutzbundes, Frau Tilsner. Wer würde schon vermuten, daß diese harmlose Unterhaltung dem edelsten aller Ziele dient: Die Rettung der Erde.

Seit gut vier Jahren treffen sich die 40 Öko-ExpertInnen vom „Stadtökologischen LEER Pfad“ im ostfriesischen Leer. Zu Beginn wollte die Initiative im Rahmen der Agenda 21-Planziele nur eine Art Dauerausstellung mit 20 Themenschildern über ökologische Probleme in der Stadt installieren. Naturlehrpfade und Sternenwanderwege gibt es reichlich in der Region. Mittlerweile aber haben sich Idee und Anspruch ausgewachsen. Jetzt wollen die „Pfadis“ nichts weniger als ihre Stadt von Grund auf verändern: Reduzierung des lokalen Energieverbrauchs; Vermeidung und/oder Wiederverwertung von Müll; vorrangiger Schutz von Boden, Wasser und Luft; Erhaltung von Natur und innerstädtischen Freiräumen; Umorganisation der Stadtplanung unter der Maßgabe „Kurze Wege für Arbeit, Versorgung und Freizeit“. Ginge es nach dem Willen der Initiative, Leer sähe in ein paar Jahren anders aus, die LeeranerInnen müßten ihr Leben radikal umkrempeln. Ein wenig hat die Stadt schon jetzt ihr Antlitz verändert: Eine einst verkehrsreiche Kreuzung wurde geknackt. Wo es früher lebensgefährlich war, die Straße zu überqueren, lädt heute dank einer neuen Verkehrsführung ein begrünter Platz zum Verweilen ein. Einmal in der Woche findet dort nun ein regionaler Bauernmarkt statt – das verkürzt die Transportwege für Lebensmittel.

Die Mitte des Platzes ziert eine Metallscheibe. Leer und Rio de Janeiro sind darauf dargestellt als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf der Weltkugel. Hintergrund dieser Eintragung: 1992 wurde in Rio von 180 Staaten der Welt die Agenda 21 verabschiedet. Agenda 21: Das, was zu tun ist, um die Welt vor Ausbeutung und Zerstörung zu retten. Diesem Ziel wissen sich die Pfadis verpflichtet. Dieser Platz ist zugleich die zukünftige „Aufbruchstation“ des LEER-Pfades, dessen ersten zehn Themenstationen im Oktober eröffnet werden.

Ein fast 3.000 Quadratmeter großes Brachgrundstück in der Altstadt wurde zur Station „Tiere in der Stadt“ umgebaut. Eine Trockenmauer lockt Kleingetier aller Art. Hummel- und Wildbienenhöhlen sind im Boden versenkt. Über tausend neugepflanzte Bäume, Sträucher und Stauden bieten Vögeln und Insekten Wohn- und Nahrungsmöglichkeiten. Blickfang ist ein „grünes Klassenzimmer“, ein offenes Rondel aus Grassoden mit Sitzbänken. Ein Bolzplatz für die Nachbarskinder ist in die Station integriert. NutznießerInnen dieses neuen Parks sind PatientInnen eines benachbarten Krankenhauses, die Gäste der anliegenden Jugendherberge und natürlich die erwarteten BesucherInnen des LEER-Pfades von außerhalb. Infoschilder erklären jeweils das Stationsthema. Jede Station gibt Tips, wie man zu Hause selbst ökologisch tätig werden kann. „Ob Kinder oder Erwachsene, mit ein wenig Phantasie kann jeder etwas zum Schutz der Natur tun“, umreißt die festangestellte Projektleiterin Inga Lutz die Intention des LEER-Pfades.

Für Leers Bürgermeister Günther Boekhoff hat der Pfad Modellcharakter. „Er ist einzigartig in Niedersachsen“. Der Stolz des Bürgermeisters basiert allerdings wesentlich auf der Arbeit anderer. Was die Initiative an Planung, Organisation und freiwilliger Arbeit investiert hat, hätte die klamme Stadtkasse nämlich niemals allein bezahlen können.

Offiziell firmiert die Öko-Initiative unter dem Mantel der Leeraner „Dreifaltigkeit“: Stadtverwaltung, Volkshochschule und der Arbeitskreis Stadtmarketing, dem die Sparkasse und Kaufleute angehören, bilden sie. Damit sind die wichtigsten Entscheidungsträger in die Organisation des Projektes eingebunden. Und die dürfen nicht verschreckt werden. Als etwa die Stadtverwaltung einen stadtnahen Wald abholzte, um Platz für Luxusbebauung zu schaffen, schwiegen die ÖkoaktivistInnen. Eine Strafanzeige von Anwohnern stoppte die Aktion. Später bestätigte eine Gericht die Willkür des Kahlschlages. Der Bürgermeister war gezwungen, den unversehrten Erhalt des Restwaldes anzuordnen.

Dann wollte der Landkreis Leer im Stadtgebiet ein mehrere Hektar großes Park- und Feuchtwiesengebiet verkaufen, um darauf Hotel, Sport- und Parkplätze bauen zu können. Die Bevölkerung rebellierte. Die LEER-Pfadgruppe hingegen schwieg. Schließlich ähnelte in Leer die Eröffnung der „ersten deutschen Fahrradstraße“ – so Bürgermeister Boekhoff in der Eröffnungsrede – einem Komödienstadl. Zwar verfügt die Stadt über ein vorzügliches Fahrradwegekonzept. Aber in der „Fahrradstraße“ kicken Autos auch weiterhin Räder von der Fahrbahn. Vor Leer haben zudem andere Städte, zum Beispiel Bremen, schon lange richtige Fahrradstraßen eingeführt. Um den Stadtfrieden zu wahren, stimmte die LEER-Pfad-Gruppe dennoch in den Eröffnungsjubel kritiklos ein.

Trotz politischen Leisetretens hat die Öko-Initiative eine Menge erreicht. Die Stadtverwaltung verteilte von 1994 bis heute Tausende von Kletterpflanzen – kostenlos. Das Resultat kann man überall in der Stadt bewundern: Grüne Fassaden an Kaufhäusern, Banken und Betongaragen. Der Charme von Knöterich, Wein und Clematis hat sich nicht nur in Leer herumgesprochen. Die LEER-Pfad-Station „Fassadengrün“ – Urstation des Projektes – ist, obwohl noch nicht eröffnet, bereits Pilgerstätte für alle, die alles über Sinn und Zweck von Kletterpflanzen wissen wollen. „Nichts wirkt so gut wie ein gutes Beispiel“, schmunzelt Ehler Cuno vom Umweltamt der Stadt Leer, einer der Mitinitiatoren des Öko-Projektes. Seit drei Jahren verfügt die Stadt darüber hinaus über eine Baumschutzordnung. Finanziert wird der Pfad aus Mitteln der Niedersächsischen Umweltstiftung. Außerdem sind alle städtischen Autos freigegeben als Werbefläche. Dieses Geld fließt in die Ökokasse. Sinnigerweise bevorzugen vornehmlich Supermärkte und Autohäuser den Ökowerbeträger. Sind die finanziellen Mittel auch knapp, als unerschöpfliche Quelle für wiederverwendbares Material zum Bau der Öko-Station entpuppen sich die städtischen Bauernhöfe. Und als nie versiegender Motivationsschub dient schließlich die Phantasie der ÖkoaktivistInnen.

„Das nervt“, beklagen die Mitglieder der Initiative. Endlose Auseinandersetzungen über die Inhalte der Informationstafel sind auf der Tages- und Nachtordnung. Ob Amseln genügend Insekten vertilgen oder ob die Forderung sinnvoll ist, Autofahrer zum Abstellen des Motors vor geschlossenen Bahnschranken anzuhalten, läßt sich in den nächsten Jahren trefflich streiten. Basisdemokratie ist nervenaufreibend. Aber das Ziel verlangt von allen höchsten Einsatz: „Laßt uns die Erde retten“, wird ab Oktober auf einer Thementafel zu lesen sein. Thomas Schumacher