Fürs Mutterland das Hinterteil

Marseille ist die älteste Stadt Frankreichs und will doch nicht so recht dazugehören. Einheimische sind in der Mehrheit zugereist, Nationalgerichte sind Pizza und vor allem Couscous. Ein fragwürdiger Umbau der Innenstadt soll den Ort touristenfreundlicher machen  ■ Von Christine Berger

Die Luft brennt. In der Bar im Hafenviertel Le Pannier kann man die Sauerstoffmoleküle an einer Hand abzählen. Sylvie reibt sich verstohlen die Tränen aus den Augen. Seit sie schwanger ist, raucht sie weniger, und das macht sich jetzt bemerkbar. Ihr Freund Rachid steckt sich gerade die fünfte Zigarette an und sorgt dafür, daß die Luft nicht dünner wird. Als Sylvie zaghaft Kritik übt, murrt er unwillig. „Mit dir auszugehen ist wirklich schwer“, sagt er. Doch schließlich gibt er nach, und sie wechseln in die sternklare Nacht. Draußen läßt der Mistral tief durchatmen. Rachid vergräbt sich fröstelnd in seine Jacke, während Sylvie erleichtert ihre Nase in den Wind hält. Schweigend gehen die beiden durch das alte Quartier, das sich in der Nacht so friedlich wie eine schlafende Katze gibt.

Der Schein trügt, denn hinter den Gardinen brodelt es. Was einst Terrain der Fischer und Seeleute war, rückt zunehmend ins Blickfeld der Stadtplaner, die gerne eine Art Montmartre daraus machen würden. Künstler und Banker mit Hang zur Kultur sollen statt den arbeitslosen Großfamilien das Viertel beleben. Doch so einfach lassen sich die ansässigen Bewohner nicht vertreiben. Touristen, die sich auf dem Weg zur Alten Charité in den engen Gäßchen verlaufen, werden mitunter beschimpft. Schließlich ist das hier kein Zoo und soll auch keiner werden.

Wäre nicht vor Jahren die Alte Charité in einen Museumstempel umgebaut worden und hätte der Stadtrat von Marseille nicht den innigen Wunsch, sein Image als Hauptstadt der krummen Geschäfte abzulegen, bliebe vielleicht alles beim alten. Aber die Politiker haben es sich nun mal in den Kopf gesetzt, die eingerostete Hafenstadt fit für das 21. Jahrhundert zu machen, und das wird nicht nur im Pannier mit Sorge registriert. Auch das Bahnhofsviertel Belsunce, in dem überwiegend Araber wohnen, soll aufgemöbelt werden. Der Bahnhof selber wird TGV- tauglich ausgebaut; unter dem Projekttitel Euroméditerranée schreitet die Arbeit bereits seit einem Jahr voran.

Im Fährhafen schwingt kräftig die Abrißbirne. Zwei von vier Abfertigungshangars sind schon in die Knie gegangen. Dort soll das Forum des Rencontres hin, ein Kongreßzentrum, das am Hafeneingang Signale setzen soll. Kein Fischer- und Spelunkennest erwartet dann den Reisenden mehr, wenn er anlegt, sondern eine kultivierte Metropole mit maritimem Flair.

Auch ohne administrative Pläne haben die meisten Fischer in Marseille längst die Netze in die Ecke geworfen. Zuwenig Fischbestände vor der Küste und kaum Lohn machen die Arbeit zum bloßen Hobby. So dümpeln im Vieux Port, dem alten Hafen, vor allem mittelgroße Yachten. Dort wo noch vor ein paar Jahren die Fischer ihren Fang verkauft haben, lungern deutsche Twens auf Trebe. Es riecht nach Bier und Urin, und natürlich sind auch Hunde dabei. Sie kläffen der kleinen Bimmelbahn hinterher, die täglich ein paarmal die Touristen spazierenfährt. Viele sind es nicht, die sich zwischen dem stinkenden Verkehr und dem Hafenufer chauffieren lassen.

Die meisten Besucher der Region machen um Marseille einen großen Bogen. Kriminell und in arabischen Händen sei die Stadt, munkeln die Franzosen aus dem benachbarten Aix-en-Provence. Karl Krieg, der ehemalige Vize- Leiter des Goethe-Instituts in Marseille, sagt es treffender. „Die Stadt zeigt Frankreich ihren Arsch hin.“ Das mögen eben nicht alle, schon gar nicht die kultivierten Bildungsbürger aus dem braven Aix. Krieg lebt seit dreißig Jahren in der Stadt, und er fühlt sich wohl. „Hier ist es manchmal dreckig, aber das ist spannender als anderswo.“ Jedenfalls hat ihn auch die Schließung seines Instituts nicht dazu bewogen, die Stadt zu verlassen. Wozu auch? Das Mittelmeer direkt vor der Tür, die Berge der Alpes Maritimes nicht weit und ein kulturelles Leben, das sich sehen läßt. Siebzehn Theater, noch mehr Kinos und viele Künstler, die sich in leerstehenden Fabriken billigen Wohnraum verschafft haben.

Wie wenig die Bewohner die Zelebrierung von Hochkultur kümmert, zeigt die Umgebung der Oper. Rechts vom Eingang erwartet ein Sexkino Gäste, ein paar Häuser weiter lockt ein Restaurant mit dem Namen „Opera Bouffe“, was soviel heißt wie Opernfressen. Daß man in den Straßen von Marseille keine Dépendancen von Dior oder Chanel findet und die Hautevolee lieber woanders absteigt, wundert da nicht. Statt dessen kommen in letzter Zeit immer mehr Kreative aus Paris in die Stadt, weil es sich hier noch mit wenig Geld gut leben läßt.

Riesige Ateliers bietet die ehemalige Tabakfabrik La Friche im Viertel Belle-de-Mai. Dort soll im Rahmen des Euroméditerranée- Geschaufels einmal das Kulturzentrum der Stadt entstehen. Eine Werkstatt des Pariser Louvre, in der die Ölschinken der Sammlung restauriert werden sollen, hat sich dort bereits angesiedelt. Ziemlich unmediterran laufen dort nordisch aussehende Wesen mit Schlabberpullovern herum, was nicht zuletzt daran liegt, daß auch etliche Deutsche sich auf dem Fabrikgelände niedergelassen haben.

Bei soviel Zugereisten stellt sich die Frage, wo die echten Marseiller eigentlich leben. So richtig gegeben hat es sie wohl nie: Typisch Hafenstadt, zog das fast 2.600 Jahre alte Marseille schon immer Immigranten an. Die ersten Siedler waren Griechen, danach kamen Italiener, Armenier und vor allem Araber. Eine lebendige Mischung, was sich nicht zuletzt im Essen niederschlägt. Couscous wird an jeder Ecke angeboten, und auch die Dichte an Pizzabäckereien ist für französische Verhältnisse ungewöhnlich. Noch dazu bekommt man sie aus dem Holzofen.

Sylvie, die ursprünglich aus der Nähe von Paris kommt, ist wegen der Arbeit als Erzieherin nach Marseille gekommen. Rachid, dessen Vater aus Syrien und die Mutter aus Marokko stammt, ist hier geboren. Er hat Anthropologie studiert und jobbt jetzt im Restaurant seines Schwagers. Seit sie zusammen sind, trinkt Sylvie zu Hause den Kaffee nur noch auf die türkische Art, und auch Schweinefleisch ist vom Speiseplan gestrichen. Dabei ist Rachid nicht besonders religiös, es ist eher die Macht der Gewohnheit. Da die beiden mit jedem Pfennig rechnen, wissen sie ganz genau, wo man am billigsten einkaufen kann. Es ist das Viertel Noailles, ein Gewirr von Gassen, in denen die gesamten Schätze des Orients auf Kunden warten. Fleisch, Fisch und Gemüse gibt es zum Schleuderpreis. Im Gegensatz zum echten Souk handeln hier die Leute kaum, Festpreise auf allen Waren erinnern daran, daß man in Frankreich ist.

Wie alt Marseille wirklich ist, bleibt dem Besucher zumindest auf den ersten Blick verborgen. Die architektonische Melange der Neuzeit lenkt den Blick eher auf blockförmige Betontristesse. Dazwischen zieren drei- bis fünfstöckige Klassiker das Zentrum. An den Rändern franst die Stadt in trostlosen Hochhausriegeln aus. Irgendwo dahinter liegen die besseren Vororte wie Vitrolles, wo die Front National im Rathaus sitzt. In regelmäßigen Abständen wagen sich die Rechtsnationalen auch ins Zentrum, um für ein sauberes Marseille zu demonstrieren. Dann machen antifaschistische Bündnisse mobil, Gegendemonstrationen sind vorprogrammiert.

Neuerdings jedoch hat sich die FN einen Trick ausgedacht. Sie verlegt ihre Aufmärsche auf nachtschlafende Zeiten, zum Beispiel auf halb zehn Uhr morgens an einem Samstag. Da hat die Linke Mühe, aus dem Bett zu finden, und die Rechten gehen unbehelligt ihres Weges. Mitunter kommen ihnen dafür die Arbeitslosen in die Quere, die ebenfalls in Marseille mit viel Krach und Musik auf die Straße gehen.

Siegt aber der Liebling aller Fußballfans, Olympique Marseille, ist auf der Rue de la Canbière kein Durchkommen mehr. Die einstige Prachtstraße der Stadt hat zwar schon bessere Zeiten gesehen, aber so gefüllt mit Menschen aller Art ist ihr Abglanz nicht ganz so sichtbar. Da drängen sich hungrige Mäuler an den billigen Imbißbuden, und die Masse an Jeansshops mit Sonderangeboten werden von Transparenten und fahnenschwingenden Citoyens gnädig verdeckt.

Wer die Stadt in ihrer ganzen Größe kennenlernen will, muß Treppen steigen. Bis zur Kathedrale Notre Dame de la Garde ist es ein steiler Weg. Oben angekommen, belohnt der Blick über die Stadt und das blaue Meer. Hier, dem Dunst der Großstadt entronnen, zeigt sich das Durcheinander aus Häusern und Felsen in seiner ganzen Weite. 46 Kilometer lang schlängelt sich die Stadt an der Küste entlang. Natürliche Grenzen liefern im Süden die Calanques, ein Felsenmassiv, das unter Naturschutz steht. Im Norden haben die Hügel die Stadt bislang noch nicht am Wachsen gehindert. Sie ist bereits in die dahinterliegenden Täler geschwappt und franst in idyllischen Dörfern und dem Flughafen aus. Die Segelboote zwischen dem Inselarchipel Frioul und dem Festland wirken aus der Höhe wie ferngesteuert, als habe die Heilige Mutter Gottes, die oben auf der Kuppel der Kirche thront, die Fäden in der Hand und auch sonst alles unter Kontrolle. Viele Bewohner von Marseille vertrauen jedenfalls ihrer Protektion und pilgern regelmäßig zur Basilika, um an der Marienstatue kleine Zettelchen mit Bitten und Wünschen zu hinterlegen.

Selbst arabische Familien kraxeln dafür auf den Berg. Erst vor kurzem hat auch der berühmte algerische Rai-Musiker Rachid Taha hier herauf einen Abstecher gemacht. Kinder, die sonst mit der Stille zwischen Orgel und Altar immer wenig anfangen können, lieben diese Kirche wegen ihrer kleinen Bildchen, die links und rechts die Mauern schmücken. Autounfälle, Schiffsunglücke und andere Pein sind die Motive des ×uvres aus zwei Jahrhunderten. Selbst klerikale Kritiker mit Vorliebe für Kitsch kommen hier auf ihre Kosten, weshalb längst nicht nur Gläubige den strapaziösen Anstieg auf sich nehmen.

Demnächst werden es wohl vor allem die Fußballfans sein, die hier noch einmal den Segen für das französische Nationalteam einholen. Der Coupe du Monde, wie die Fußballweltmeisterschaft auf französisch heißt, ist für das Bureau du Tourisme ein echter Segen. Marseille, als nationale Fußballstadt Nummer eins, ist einer von insgesamt zehn Austragungsorten. So werden im Juni alle Hotelbetten der Stadt belegt sein, und wenigstens in diesem Jahr wird die Statistik positiv für die Fremdenverkehrszentrale ausfallen.

Um es bei dieser Eintagsfliege nicht zu belassen, ist man emsig bemüht, den Fußballfans aus aller Welt ein möglichst attraktives Stadtbild zu zeigen. Überall werden die Häuser gestrichen, Straßen repariert, und natürlich wurde das Stadion großzügig aufgedonnert. Den Bewohnern ist das allerdings nicht genug. „Sie hätten das Stadion ruhig überdachen können“, meckert Rachid. Daß es im Juni in Marseille kaum regnet, ist für ihn kein Argument. Allein der Vergleich mit Paris zählt. Dort hat man im nahe gelegenen St. Denis eine Luxusversion aus dem Boden gestampft, und das schürt Neidgefühle.

Wer sich nicht für Fußball interessiert, schmiedet derweil Fluchtpläne. Zwei Millionen Besucher werden erwartet – für die tourismusschwache Stadt eine echte Herausforderung.

Trotz aller Aufbruchstimmung herrscht in Marseille ein erschreckendes Elend. Jeder zehnte Einwohner lebt unter der offiziellen Armutsgrenze, und vielen bleibt nichts als die Karriere im kriminellen Milieu. Auch das hat Tradition: Paten wie Gaetan Zampa, der in den 70er und 80er Jahren „regierte“, galten von jeher als berüchtigte Berühmtheiten. Ihre Nachfolger kann man in den Bars rund um die Oper bei ihren Geschäften beobachten. Von der vor Marseille liegenden Ile de Frioul mit ihrem häßlichen Ferienhausensemble wird gemunkelt, sie diene etlichen Familien als Geldwaschanlage.

Was tatsächlich stimmt und was nicht, weiß niemand. Jedenfalls nimmt man es ganz nach südlicher Manier mit den Fakten nicht so genau und gibt Gerüchte ganz gerne um die eigene Interpretation bereichert weiter. Vielleicht liegt das auch daran, daß man in Marseille soviel träumt. Vom Wohlstand, von legaler Arbeit und einem besseren Leben. Meist besteht der Traum ein Leben lang, denn „die Müdigkeit, das ist eine echte Krankheit hier in Marseille“, sagt Rachid. Und so bleibt man am liebsten sitzen auf der Terrasse eines Cafés oder hält sich fest am Tresen in einer Bar. Die Zeit verstreicht, so oder so.