Hospital der Geister

Emilia und Ilya Kabakov haben im Hamburger Bahnhof ein Erinnerungskabinett aus der Hochzeit des Sowjetsozialismus gebaut. Ihr „Treatment with memories“ vereinigt Alltagsbilder, Therapie und sentimentale Leere  ■ Von Harald Fricke

Allmählich setzt sich die Berliner Museumsmaschine für zeitgenössische Kunst in Bewegung: Zum ersten Mal nach der Eröffnung im November 1996 ist der Hamburger Bahnhof ganz ausgebucht. Dabei geht der Trend offenbar zum Irrgarten. Im rechten Seitenflügel hat man der Schweizerin Pipilotti Rist ein krauses Videolabyrinth eingerichtet, über den ersten Stock verteilt laufen die Filme von Marcel Broodthaers in verwinkelten Dunkelkammern, und links hinter Walther Königs gut sortierter Buchhandlung führt seit letztem Freitag ein abgetrennter Gang in die Installation des russischen Ehepaars Emilia und Ilya Kabakov. Dort ist die Szenerie allerdings sehr viel unwirtlicher als in Pipilottis mädchenhafter Traumwelt: Die Kabakovs haben für „Treatment with memories“ eine Raumflucht mit sechs Krankenzimmern einbauen lassen, in denen man den Gespenstern des Sozialismus begegnen kann.

Doch zunächst ist die Atmosphäre unglaublich beruhigend, wie es sich für ein Hospital gehört. Jeder Raum ist lediglich von einer schwachen Lampe beleuchtet und mit einem kargen Feldbett plus grauem Beistellschränkchen möbliert; davor wurde ein weißer Vorhang aufgespannt, und man merkt schnell, daß in diesem Lazarett nur ganz ernste Fälle behandelt werden. Schließlich befinden wir uns in der psychiatrischen Abteilung, so steht es jedenfalls am Eingang auf einem Doppelblatt geschrieben.

Laut Kabakov geht „Treatment with memories“ auf ein Experiment zurück. 1992 soll ein gewisser Dr. V. N. Lublin im Krankenhaus von Saratow ein Verfahren entwickelt haben, um alten Menschen zu helfen, die an fortgeschrittenem Erinnerungsverlust leiden. Seine Diagnose ist verhängnisvoll: „Die medizinischen Experten wissen sehr wohl, wie schwierig die Behandlung älterer, bettlägriger Patienten ist, speziell in Fällen, in denen die Krankheit von Angst begleitet ist. In der Regel geht dieser psychische Status einher mit dem Nachlassen des Geistes im Sinne herannahender Senilität. Und wenn der Patient selten von Angehörigen besucht wird, was traurigerweise oft der Fall ist, dann kulminiert das in einer chronischen Depression, die den langsamen Verfall des Patienten voranschreiten läßt.“ So ist das also in der ehemaligen Sowjetunion – die Menschen verzweifeln daran, daß sie ihre Vergangenheit vergessen.

Was sich der Arzt – oder vielmehr Kabakov, dessen Kunst stets von solch verschachtelten Fiktionen geprägt ist – gegen diese schleichende Agonie des vormals Realen ausgedacht hat, ist Arbeit mit der Erinnerung. Deshalb wird man auf seiner Krankenstation mit Bildern therapiert, die in jedem Raum als halbstündige Dia-Show zu sehen sind. Kabakov führt dem Besucher/Patienten Familienalben vor: Bilder aus der Kindheit, von Reisen, aus den Ferien, Familientreffen und so weiter. Dazu werden begleitende Kommentare gesprochen, „das langsame Wechseln der Dias, die sanfte Sprache und der halbdunkle Raum werden helfen, den Patienten in einen tiefen Schlaf zu wiegen.“

Das Konzept der Heilung durch das Zurückholen von Vergangenheit ist schwer durchtrieben. Es führt im Rekurs auf Marx und Freud die Glücksversprechen des Sozialismus ad absurdum. In der Wiederholung bleibt nur eine Abfolge von gewöhnlichen Begebenheiten übrig, an die sich die alten Kader oder einfachen Parteigänger in ihren Pflegebetten klammern müssen, nachdem die große Utopie gescheitert ist. Statt der Siege des Sozialismus zeigt Kabakov Kaffeekränzchen, den ersten Schultag und Ferien auf dem Lande, der Mythos vom „neuen Menschen“ zerfällt in lauter individuelle Biographien, Miniaturen und melancholisch gefärbte Alltagsschnipsel. Immer dominiert das kleine Glück über die Ideologie. Daß sich am Ende der Realitätsbezug in punkto Vergangenheit ausgerechnet in der Arbeit eines Künstlers einstellt, dessen Werke nicht der offiziellen Doktrin des sozialistischen Realismus und seiner heroischen Darstellung der Gesellschaft entsprachen, macht die Sache um so pikanter.

Doch Emilia und Ilya Kabakov gehen mit „Treatment with memories“ noch weiter. Was da auf Kopfhörern ins Deutsche übersetzt als Text vorgetragen wird, sind Stationen innerhalb ihrer eigenen Biographien. Die Kindheit in Dnjepropetrowsk, der Wechsel an die Moskauer Schule für bildende Kunst, Emilias Klavierstunden und Ilyas illegale Treffen mit der Underground-Boheme fügen sich nicht bloß zur schwermütigen Erinnerung zusammen, sie sind auch eine Erzählung über den Werdegang jener inoffiziellen Kunstszene der Sowjetunion. Plötzlich wechselt die Dia-Show dann von der Wanderung in den Bergen zu jener Konzeptualisten- Ausstellung 1974, die von der Polizei mit Bulldozern geräumt wurde. Danach sieht man trotzdem wieder hübsche Hochzeitsfotos und Frau Kabakov, die mit einem Kinderwagen durch den dichten Schnee stapft. Weil die Übergänge fließend sind, fällt nicht einmal die Emigration nach Miami auf. Nur das letzte Bild zeigt Emilia in einem Glitterkleid, daß sie ausdrücklich „in New York“ gekauft hat, um zu ihrem Geburtstag besonders chic auszusehen.

Schon bald wird einem klar, daß hier nicht das Volk, sondern der Künstler die Erinnerungen auslebt. Bei aller Ironie im Umgang mit Geschichte ist es der 1933 geborene Kabakov, der unter der Angst leidet, zu vergessen, wie es sich wirklich zugetragen hat in der Sowjetunion. Anders jedoch als im Bild des ausgegrenzten Dissidenten, wie es von DDR-Künstlern gezeichnet wurde, legen die Kabakovs mit ihrer Arbeit darauf wert, daß sich der Alltag im Sozialismus für alle Beteiligten ähnlich abgespielt hat. Mehr noch: Das Zeitgeschehen auf den 150 Dias soll sich gerade nicht von der Lebenserfahrung und -bewältigung eines jeden anderen Sowjetbürgers unterscheiden, denn inoffizielle Kunst, das war ja „Zwangsevakuierung des Künstlers in den Alltag des kleinen Mannes“, wie es Kabakov im Rückblick beschrieben hat. Insofern schließt sich mit „Treatment with memories“ ein Kreis, der auf verblüffende Weise der idealen Verbindung von Kunst und Leben entspricht, zugleich aber auch jener Idee verpflichtet ist, nach der Kunst aus der Mitte der Gesellschaft entstehen soll.

Andererseits wird in der Engführung das soziale Debakel des sowjetischen Staates sichtbar. Weil jeder Mensch in das gleiche Schema gepreßt wurde, ähneln sich auch die erinnerten Bilder. So sind Probleme, die Kabakov noch in der Tauwetterperiode mit dem KGB bekommt, weil er Besuch aus dem Westen empfängt, durchaus mit Querelen vergleichbar, die Emilia bei der Wohnungssuche erlebt, oder mit einer beliebigen Tragödie, die sich auf einer Kolchose in Usbekistan abgespielt haben könnte.

Tatsächlich beschäftigt sich Kabakov bereits seit den siebziger Jahren mit dem zwangskollektivierten Gedächtnis. Damals legte er 55 Mappen an, für die sich der gelernte Buchillustrator sorgsam kleine Bildgeschichten ausdachte. Im Off der sowjetischen Staatskunst entstanden Zyklen über den Beamten Malygin, der nach seiner Pensionierung weiter Akten bekritzelt, oder über einen Herrn namens Primakow, der ängstlich im Schrank sitzend die Welt vor seiner Tür beobachtet – scheiternde Helden à la Gogol oder Dostojewski, Oblomows im Zeitalter des Sozialismus. Nach seiner Ausreise sind Kabakovs raffinierte Erzählungen im Westen zu überdimensionalen Rauminstallationen angewachsen, die sich auf der documenta 1992 etwa als märchenhafte Familiensaga in einem Toilettenhäuschen abspielen konnten. Zugleich blieb es eine fremde, in sich geschlossene Welt, in der „Dinge ohne jeden Stil“ (Kabakov) zufällig aufeinanderzutreffen schienen.

Auch in Berlin verläßt man die Krankenzimmer einigermaßen verwundert, weil die dort vorangetriebene Musealisierung der Sowjetvergangenheit den westlichen Schatzkammergelüsten komplett entgegengesetzt ist. Während hier das Museum die Welt ständig als Artefakt verdoppelt und überhöht, rettet Kabakov die verschüttete Einzigartigkeit noch so banaler Ereignisse, indem er sie als Bagatelle beläßt. Seine Installation „Auf dem Dach“ 1996 in Brüssel bestand aus einer Vielzahl von Kojen, in denen zwischen abgewetztem Plunder die Geschichte der Moskauer Konzeptualisten erzählt wurde, für den Beitrag zur Berliner Ausstellung über die „Endlichkeit der Freiheit“ hatte Kabakov 1990 Müll am Potsdamer Platz gesammelt und als beschriftete Fundstücke an einer Bretterwand aufgehängt.

Daß im akribischen Archivieren von Nebensachen, in der gleichmütigen Häufung von Existenznot und privater Glückseligkeit irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem die Geschichte für den Zuschauer in eine leere Sentimentalität abdriftet, gehört zur Strategie. „Wo ,nichts‘ ist, ist vielleicht auch ,alles‘“, sagt Kabakov mit der ihm eigenen stoischen Nachsicht, denn „der Klang entsteigt der toten Sache.“ Auch diese Hoffnung paßt in eben jene „untergegangene sowjetische Alltagswelt“, an die sich der russische Kunsthistoriker Boris Groys bei Kabakovs Arbeiten schmerzhaft und doch immer wieder gerne erinnert fühlt. Vielleicht bedeutet es aber auch nicht mehr, als die augenzwinkernde Erkenntnis: Operation gelungen – Patient irritiert.

Emilia und Ilya Kabakov: „Treatment with memories“, bis 30.8., im Hamburger Bahnhof, Berlin. Der Katalog kostet 15 DM.