Eine Triebtat, viele Henker

Nach dem Sexualmord an einer Elfjährigen in Sachsen ist im Dorf für Trauer wenig Raum. Vor den Fernsehkameras rufen Nachbarn nach Genickschuß, Galgen und Guillotine. Die Familie des Opfers ist bereits geflohen  ■ Aus Doberstau Constanze v. Bullion

Die Szenerie ist gespenstisch. Nancy und Michaela aus der Mittelschule Zschernitz hocken am Straßenrand und heulen. Blumen, kleine Plüschteddies und bunte Postkarten haben die Nachbarn aufgestapelt. „Triebtäter müssen ins Gefängnis für immer“, hat ein Kind auf ein Pappbild zwischen den Büschen geschrieben. Und weil das alles so unheimlich emotional rüberkommt, sollen Nancy und Michaela noch ein bißchen weiterweinen für die angereiste Presse, ein paar Jungs dürfen sich vor der Kamera aufreihen, ins Licht blinzeln, als hätten sie eben ein Pokalspiel gewonnen.

Im sächsischen Doberstau wird der Schülerin Christina A. gedacht. Vergangenen Freitag wurde die Elfjährige in einem Waldstück sexuell mißbraucht und erwürgt. Wer das getan hat, ist unklar, die Polizei hat eine Informationssperre verhängt. Rumgesprochen hat es sich natürlich trotzdem wie ein Lauffeuer, fast 300 Leute erschienen am Sonntag zu einer Demonstration. Die geriet zu einer reichlich lärmenden Veranstaltung. „Das ist kein Mensch, das ist ein Tier“, donnerte etwa Wolfgang Rademacher der trauernden Gemeinde entgegen. Der Bürgermeister ist ein fülliger Landwirt, der für die SPD kandidiert. Drei Tage nach der Tat versprach er, „alles zu tun, damit unsere Gesetze endlich angewendet werden“. Kurz bevor die Feuerwehrsirenen zum Gedenken aufheulen, warnt er seine Schäfchen noch vor „übertriebenem Demokratieverständnis“.

Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. „Die Todesstrafe muß wieder her“, kriegt man hier an jeder Ecke zu hören. „Ab in die Genickschußanlage mit dem Kunden“, empfehlen die Glatzen vor der Schule. „Gleich den Kopp abhacken“, ereifert sich eine Seniorin in der Hollywoodschaukel. „Nein, aufhängen wie bei Hitler“, korrigiert ein ehemaliger Schäfer, der sicher ist, „daß es so was bei den Kommunisten nicht gab“. Therapien für Mörder, meint eine Ex- Facharbeiterin, „das ist doch die reinste Geldverschwendung“.

Wer sich die Verwünschungen der Anwohner anhört, wer die Schülerkolonnen sieht, die sich durch blühende Rapsfelder auf den Tatort zuwälzen, und wer mitkriegt, wie Trauer über einen brutalen Mord zum Medienspektakel gerinnt, dem fällt es schwer, nicht zynisch zu werden. Vor der geifernden Stimmung ist die Familie des Opfers vor Tagen geflohen. Zurück bleibt eine ratlose Gemeinde – und eine Pfarrerin, der nicht mehr wohl in ihrer Haut ist.

Ellen Liehm ist eine nachdenkliche Person mit einem warmen Muttergesicht, die im alten Gemeindehaus wohnt. Die Seelsorgerin hat eine lange Liste von Unterschriften gesammelt und sie an ihr Beileidsschreiben für die Angehörigen der Ermordeten geheftet. Von Beistand und Trost war da die Rede, doch eh sie sich versah, drückte man der tatkräftigen Pastorin Flugblätter in die Hand, die eine andere Sprache sprechen.

„Die Kette der Bluttaten psychisch gestörter Sexualtäter reißt nicht ab“, heißt es auf den Zetteln einer Bürgerinitiative, die wie aus dem Nichts auftauchte. „Wartet nicht, bis der Triebtäter zuschlägt, handelt jetzt“, werden die Dörfler angefeuert, „morgen ist es vielleicht eure Schwester.“ Sehr kurze Haare hatte der junge Mann aus Halle, erzählt Frau Liehm. Aber schließlich sehen ja fast alle Jungs in der Gegend so aus, auch Denies O. und Peter H. 16 Jahre alt sind die beiden, die am Samstag in einem Interview erzählten, daß sie ein geklautes Moped suchten, als sie im Wald Christinas Fahrrad entdeckten. Die Polizei fand, daß sie etwas zu genau Bescheid wußten über den Tatort – und verhaftete beide auf der Stelle. Inzwischen sind Denies und Peter wieder auf freiem Fuß. Doch daß zumindest Denies es gewesen sein könnte, will im Dorf keiner ganz ausschließen. Immerhin hat er schon Motorräder geklaut, soll eine Lehrerin mit dem Messer bedroht haben. Selbst der Pastorin ist er „unangenehm aufgefallen“, weil er Mädchen und ältere Frauen an der Bushaltestelle belästigte.

Klauen, belästigen, umbringen, ganz logisch hört sich das an. Ellen Liehm ist vorsichtiger als viele im Dorf. „Man kann doch nicht sagen, er hat zu Hause ungeordnete Verhältnisse und geht hin und mordet“, sagt sie kopfschüttelnd. „Der war's nicht“, wissen Ronny und Henry, die vor der Schule stehen und sich filmen lassen. Zur Beerdigung wird wohl die ganze Schule erscheinen. Aber da will man Kameras verbieten.