„Helmut, Helmut!“

Kämpferisch, nach vorn gewendet. So sollte die Rede des Kanzlers werden. Sie war ein Abgesang auf vergangene Großtaten  ■ Aus Bremen Dieter Rulff

Helmut Kohl hat an den Ort des Parteitages, die Bremer Stadthalle, „eine nicht vergeßbare Erinnerung“. Es ist die Erinnerung an den legendären Bremer Parteitag des Jahres 1989. Jeder der 700 Pressevertreter, der am Sonntag abend auf dem traditionellen Empfang den Begrüßungsworten des CDU-Vorsitzenden zuhört, weiß, wovon die Rede ist. Unvergeßlich, die einzig wirkliche Konspiration gegen Kohl in seiner langen Geschichte als Parteivorsitzender. Es war der letztlich mißlungene Versuch, statt seiner Lothar Späth an die Spitze zu hieven. Doch warum will Kohl ausgerechnet jetzt die alte Geschichte wieder aufwärmen? Mehr als das notwendige Maß an Aufmerksamkeit ist ihm jedenfalls gewiß.

Aber nein, der Bundeskanzler redet nicht von den damaligen und heutigen Querelen der Partei, seine kurze Erzählung schweift zu Gyula Horn, mit dem er telefonierte, kurz bevor der ungarische Außenminister die Grenzen nach Österreich öffnen ließ und damit das Ende des Ostblocks einläutete. Solcherart sind die Gedanken, die sich der Kanzler in seinem sechzehnten Amtsjahr macht. Bremen 1989, das war der letzte Parteitag, auf dem Kohls Position angefochten war, die Partei eine Alternative zu ihm suchte. Bremen 1998, das ist die CDU ohne Alternative zu Helmut Kohl, gleichwohl ist er nicht unangefochten. Denn der Stimmungsumschwung zugunsten der CDU, den er bei der letzten Wahl noch schaffte, er will sich nicht einstellen.

Die bislang enttäuschten Erwartungen wurden von den 1.001 Delegierten mit in die Bremer Stadthalle gebracht, um in einer mitreißenden Rede ihres Vorsitzenden ihre Erfüllung zu finden. Heiner Geißler hegt ganz andere Erinnerungen als Helmut Kohl. 1989, natürlich, das sei der Parteitag gewesen, „bei dem ich als Generalsekretär nach zwölf Jahren abgelöst wurde“. Er, der damals die glücklosen Frondeure anführte, ohne ihr Führer sein zu können, lehnt an einem Tresen, umringt von Journalisten auf der Suche nach Rissen im Erscheinungsbild der Union. Ob Wolfgang Schäuble nicht doch vielleicht in die erste Reihe gehöre? Er habe immer deutlich gemacht, daß er sich eine andere Abfolge in der Nachfolgefrage gewünscht habe. Ob heute die zweite Reihe hinter Kohl denn stärker sei als damals? „Die CDU hat gute Leute in der zweiten Reihe.“ Darauf baut auch Volker Rühe, der sich selbst in dieser Linie befindet. Der Verteidigungsminister plädiert in einem Zeitungsinterview dafür, „daß wir diese zweite Linie, die künftige Führungsgeneration der CDU, im Einvernehmen mit Helmut Kohl deutlicher und sichtbarer herausstellen“.

Ob er erwarte, daß Helmut Kohl in seiner Rede vor dem Parteitag die zweite Reihe herausstelle? Geißlers Augen verkleinern sich zu einem verschmitzten Dreieck. Er habe schon vor vier Jahren gesagt, man solle eine Mannschaft aufstellen. Er erwarte, daß Kohl nun für diesen Gedanken offener sei. Vielfältig sind die Erwartungen, die sich an diesem Abend auf die Rede Helmut Kohls richten. Der hessische Landesvorsitzende Roland Koch sieht die Union gar „vor einer gefährlichen Wendemarke“. Die Partei ist an einem Tiefpunkt angelangt. Die Umfragen weisen konstant niedrige Werte aus, ohne daß das erwünschte Signal des Aufbruchs in der Ferne erkennbar ist. Auch die Stimmung auf dem Presseabend ist gedämpft. Einen glasklaren Richtungswahlkampf hat Generalsekretär Peter Hintze angekündigt. Doch in welche Richtung will die CDU gehen?

Auch die gestrige Rede des Parteivorsitzenden gibt darauf keine Antwort. Zwei Stunden redet Helmut Kohl – entschieden zu lang. Ein Signal soll es sein, daß die CDU auf die Zukunft setze, doch weite Strecken der Ausführung gelten der Vergangenheit. Europa sei eine Sache, in der die Union gut bestehen könne, meint Kohl, und der Europäer hat recht. Doch redet er davon, wo er, wo die Union bestanden hat, wenig davon, auf welchen Federn sie bestehen will. Europa, das ist zum wiederholten Male der Traum des jungen Helmut Kohl, der sich einen Kontinent ohne Grenzen wünschte, dessen Europabild in der „Geschichte und der christlichen Überzeugung“ verankert ist. Dessen Traum ist mit der Einführung des Euro in Erfüllung gegangen.

Auch der Euro ist bald Geschichte. Doch zu den dann folgenden Schritten des Einigungsprozesses, zu den Aufgaben, für die er doch prädestiniert wäre – dazu kaum ein Wort. Die Osterweiterung des Bündnisses wird kaum erwähnt. Womöglich ist auch für die Union dies zur Zeit kein Thema, mit dem man Begeisterung hervorrufen kann. Hat nicht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Rudolf Seiters erst jüngst für eine zeitliche Streckung des Integrationsprozesses plädiert. Auch der Chef der CSU-Landesgruppe Glos hat eine Pause nahegelegt. Gegen diese aufkeimende Stimmung mag sich Kohl nicht stemmen. Kohl verspricht zu kämpfen, denn Wahlkampf sei Kampf. Und ein Richtungswahlkampf, so ließe sich anfügen, ist das allemal.

Zur Richtung müssen die Personen der Spitzenkandidaten stimmen, hat am Abend zuvor Heiner Geißler vorgegeben. Wäre auch der Umkehrschluß richtig, dann wäre die Union in den kommenden Wochen auf das Bewahren ausgerichtet. Auf den Schutz des Bestehenden vor der Anmaßung eines rot-grünen Bündnisses, das, daran läßt Kohl keinen Zweifel, sich notfalls auch auf die PDS stützen würde. Die Frage, ob und wie die Union diese Behauptung dem Wähler glaubhaft machen kann, wird in den kommenden Wochen wahlentscheidend sein. Das Zusammengehen der SPD mit der PDS in Magdeburg hat, so lassen sich die jüngsten Umfragen lesen, nicht zu nennenswerten Verlusten bei der SPD geführt. Deshalb müsse die CDU „mehr Aufklärungsarbeit leisten“, meint am Vorabend der sachsen-anhaltische Landesvorsitzende Christoph Bergner gequält. Doch schon über das Aufklärungsmaterial ist sich der stellvertretende Bundesvorsitzende mit seinem Parteifreunden uneins. Eine Gleichsetzung der PDS mit der DVU, wie sie vor allem von Hintze und der Schwesterpartei CSU propagiert wird, „bringt wenig“. Bergner ist anzumerken, daß der „holzschnittartige Richtungswahlkampf“, den Hintze angekündigt hat, nicht seinen ostdeutsch geprägten Vorstellungen vom politischen Handwerk entspricht. Das Verhältnis zur PDS definiert er moderat als eine „wichtige Identitätsfrage“ für die SPD.

Kohl weiß, daß eine PDS-Kampagne bei der Ost-CDU nicht wohlgelitten ist. Doch ist es für ihn eine ausgemachte Sache, daß sich auch Schröder notfalls mit der PDS einlassen würde. Hatte der nicht gesagt, daß ihm eine Stimme Mehrheit reichen werde. Und dann, sagt Kohl, stehe Deutschland im September vor zwei „grundverschiedenen Richtungen“, wovon die eine in „eine linke Republik“ führe. Unsicherheit und Instabilität bedeute dieses in der Außen- und Sicherheitspolitik und ein Verlust an Vertrauen in der Welt. Nun werden mit der Außenpolitik zur Zeit bekanntlich keine Wahlen gewonnen. Mit dieser rethorischen Figur erweist sich Kohl als der Exponent der alten Mitte, als der er bereits seine früheren Wahlkämpfe bestritten hat. Seinen Kontrahenten, der für sich die neue Mitte reklamiert, attackiert Kohl maßvoll. Weniger Schröders aktuelles Auftreten steht dabei im Mittelpunkt. Zum Nachweis der Unzuverlässigkeit müssen Zitate älteren Datums herhalten, etwa zur Wiedervereinigung oder zum Nato- Doppelbeschluß. In beiden Fällen reklamiert Kohl für sich, richtiger gelegen zu haben. Doch würde ihm Schröder da widersprechen? Die Leute, so hat Heiner Geißler das Grundproblem der Union benannt, sagen, 16 Jahre an der Regierung, das reicht. „Wir müssen begründen, weshalb wir weitermachen.“ Diese Begründung hat Helmut Kohl gestern anderen in der Partei überlassen, allen voran Wolfgang Schäuble. Die zweite Reihe deshalb neben sich stärker in den Vordergrund zu rücken, dazu hat er sich allerdings nicht durchringen können.

Aber auch ohne dieses Signal brach der Applaus der Delegierten los, kaum das Kohl geendet hatte. „Mach's noch einmal, Helmut“ forderte ein überdimensionales Plakat. Wie lautet doch die Musik, die zu dieser Aufforderung erklang: „As time goes by“. Nach 16 Jahren Regierung auch ein schönes Motto für einen Wahlparteitag.