Risiko Kontrollverlust

■ „Der flexible Mensch“: Der Soziologe Richard Sennett über die Kehrseiten des modernen Kapitalismus

So etwas hat ja einen unangenehmen Beigeschmack. Da steigt der angesehene New Yorker Soziologe Richard Sennett auf die Straße hinab, um sich, ähnlich seinem französischen Counterpart Pierre Bourdieu, der sogenannten schweigenden Mehrheit anzunehmen. Statt am Bankett internationaler Kongresse steht er für eine Weile im Dampf einer Bäckerei und führt Interviews über die Arbeit. Munter plaudert Richard Sennett dann in seinem jüngsten Werk Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus drauflos und führt ein paar griechische Bäcker in Boston, die Barfrau Rose und Rico, der in einer Consultingfirma sein Tagwerk verrichtet, in losen Fallstudien vor.

Diese Studien sind eine Fortsetzung seiner vor einem Vierteljahrhundert in The Hidden Injuries Of Class angestellten Beobachtungen über amerikanische Arbeiter. Sennett kehrte in die selbe Bäckerei zurück, um festzustellen, daß sich mit dem Einzug des Computers in das Bäckerhandwerk nicht nur die Arbeitsumstände, sondern auch das Selbstverständnis der Bäcker geändert hat: „Nur wenige Bäcker sehen tatsächlich noch das Brot, das sie herstellen.... Brot ist ein Bildschirmsymbol geworden.“ Darüber geht aber neben der Kontrolle über das Handwerkszeug auch die Bindung an Betrieb und Klasse flöten.

Bei Rico sieht es ähnlich aus. Er ist mit seiner Familie schon viermal umgezogen und gilt als risikofreudig und flexibel. Doch obwohl er es zu etwas gebracht hat, lebt er in ständiger Angst, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Wie soll ein Mensch, der im Chaos aufblüht, in seinem Privatleben an bleibenden Werten wie Familie festhalten?

Solche Beschreibungen alltäglicher Entfremdungsprozesse nimmt Richard Sennett als Sprungbrett für seine Formulierung von Phänotypen wie dem des flexiblen Menschen. Dabei geht es Sennett darum, Begriffe für eine Diagnose von Verformungen des Charakters im modernen Kapitalismus zu bilden. Wenn Rico etwa über Routine klagt, legt Sennett eine Begriffsgeschichte nach. Ähnlich verfährt er mit anderen Begriffen wie Flexibilität, Risiko, Arbeitsethos. Neben seinem verstorbenen Freund Michel Foucault und seiner Frau, der Wirtschaftswissenschaftlerin Saskia Sassen, werden Frederic Jameson, Zygmunt Bauman und Richard Rorty, aber auch Hesiod, Ulrich Beck und Max Weber zitiert.

Den zentralen Begriff „Drift“ – jenes Dahintreiben, das auch der amerikanischen Originalausgabe ihren Titel gab – hat er dem Journalisten Walter Lippmann entlehnt. Bereits am Vorabend des ersten Weltkriegs hatte dieser die driftenden Arbeitserfahrungen gegen den Wunsch nach Beherrschung der Lebensereignisse gesetzt. Hier setzt Sennett mit seinen beiden Materialebenen an und beschreibt die dem modernen Kapitalismus entsprechende Subjektivitätsform als eine Collage, eine Sammlung von Zufälligem und Beliebigem. Doch bejubelt Sennett diese Fragmentierung nicht, sondern denkt die dunklen Seiten dieser Subjektivitätsform mit. Indem er seine beiden Materialebenen verzahnt, die Fallstudien mit den Begriffsgeschichten relationiert und umgekehrt, löst er am Ende auch den schalen Beigeschmack des professoralen Urteils über Underdogs auf, um eine notwendige Diskussion über die Kehrseiten unserer flexibilisierten Arbeit anzustoßen.

Volker Marquardt

Richard Sennett: „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“, Berlin Verlag 1998, 224 Seiten, 38 Mark; Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus