Luft von anderem Planeten

■ Ein phänomenales Konzert des Lübecker Artemis-Quartetts in der kleinen Glocke

Einer Kritik über Streichquartette sehe ich inzwischen mit Horror entgegen: Wenig scheint verbal noch differenziert werden zu können über die Grundqualitäten guter und bester Streichquartette. Homogenität – selbstverständlich, Individualität der Stimmen – selbstverständlich, Impulsaustausch – selbstverständlich, Texttreue – selbstverständlich.

Außerdem fällt es bei der großen Menge an außerordentlichen Streichquartetten zunehmend schwer, noch Steigerungskatego-rien zu finden. Bei dem nicht mehr ganz jungen, aber doch noch zum Nachwuchs zählenden Artemis-Quartett aus Lübeck – im letzten Philharmonischen Kammerkonzert im kleinen Glockensaal – brach das ebenso vornehme wie im Durchschnitt überalterte Publikum nach der Wiedergabe von Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett in Trampeln und Johlen aus – völlig zu Recht!

Denn die inhaltliche Wucht dieser Wiedergabe vermittelte sich jedem und direkt. Das Streichquartett in fis-Moll, 1907/08 geschrieben und bei der Uraufführung mit „Aufhören!“-Rufen bombardiert, steht am Ende von Schönbergs to-naler Epoche, ist aber auch noch nicht atonal.

Es ist ein spannender, heute eher irritierender stilistischer Zwitterreiz, der sich daraus ergibt. Natalia Prishepenko und Heime Müller, Violine, Volker Jacobson, Viola, und Eckart Runge, Violoncello, ließen jede falsche Konstruktivität hinter sich und arbeiteten an drängender Expression, an der irrealen Klanglichkeit der „Luft von anderem Planeten“, wie es in dem dem Werk zugrundeliegenden Text von Stefan George heißt. Der gemeinsame Strich zweier oder dreier Instrumente in Parallelstellen war derart genau, daß man für den Klang eine einzige Quelle vermutete. Perfekt auch das Zusammenspiel mit der amerikanischen Sopranistin Christine Whittlessey, die den Texten einen zutiefst existentiellen Ausdruck verlieh: Das kann man nicht besser machen.

„Glaubt er, daß ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?“, soll Beethoven dem Geiger Schuppanzigh gesagt haben, als der sich über die Unspielbarkeit seiner Quartette beschwerte. Treffender ist der Primat des Geistes vor den aufführungstechnischen Problemen in Beethovens Quartetten kaum zu umschreiben. Und da die Lübecker über die Technik verfügen, können sie mit dem Quartett op 59, Nr. 3, souverän den Geist erfüllen. Da bleibt keine rhythmische Spannung, keine Pause, kein dynamischer Akzent, keine Feinheit der Phrasierung unbeachtet. Die Mischung aus transparentem und analytischem Spiel und der Mut zur Expressivität in der orchestralen Wildheit des Menuetts: All dies geriet an diesem Abend zu einer interpretatorischen Sternstunde.

Aufschlußreich war auch die Programmzusammenstellung: Mit dem einleitenden Streichquartett in A-Dur, KV 464 von Mozart präsentierte das 1989 gegründete Quartett ein weiteres Zentralwerk kompositorischen Fortschritts. Die Wiedergabe war gut, wenn auch nicht so bedingungslos überzeugend wie bei den beiden anderen Werken. Zu gehetzt, zu wenig rhetorisch wirkte der Gestus, die beabsichtigte Fragilität neigte eher zum Zerbrechen. Ute Schalz-Laurenze