Village Voice: Posse ohne Poser
■ Die Elektronauten veröffentlichen nun doch noch ihr popkompatibles Debütalbum
Wundertüte Bindemittel: Auch wenn sich die vielversprechende Berliner Cross-over- Hoffnung schneller auflöste, als die Charts zuschnappen konnten, lohnt es sich, die weiteren Spuren der Beteiligten zu verfolgen. Labelmanager Fitz Braum sitzt inzwischen in Stuttgart und führt jetzt die Geschäfte bei Four Music (Freundeskreis, Lemonbabies und viele andere), Sängerin Christine Hill machte auf der documenta eine Volksboutique auf, ging dann als Stipendiatin nach New York und stellt derzeit in Kopenhagen aus. Auch Bandmanager Marc Weiser ist nicht untätig geblieben und kümmert sich von einem Hinterhof in der Brunnenstraße aus um die im Hinterhof des Schokoladens beheimateten Elektronauten. Derzeit sind es ungefähr zehn – und wenn allein sechs von ihnen auf der Bühen sind, verwandeln sie jedes noch so beschauliche Jugendzentrum der Republik in eine hochtourig absteppende Jungle-Dancehall.
Ihr nach fast zehn Jahren verworrener Bandgeschichte nun endlich erschienenes offizielles Debütalbum, „Collective Unduced Fiction“, ist aus unterschiedlichsten Gründen ein starkes Stück Musik zur Zeit, zur Stadt, zur Regeneration einer Generation. Die als Posse ohne Poser operierenden Elektronauten gehen nämlich einen anderen Weg als die technoid- spezialisierten Drum-'n'-Bass- Sekten: Haufenweise offene Türen stehen freundlich rum, durch welche willst du eintreten?
Besonders verlockend für alle außerhalb der Breakbeat- Community ist natürlich der mutige Pop-Appeal, den Sängerin Noelle so lecker über elegant stolpernde Rhythmen gießt wie andere Leute warme Vanillesoße über frisch gebackenen Apfelkuchen. Und die Samples von Bob Marley, Lydia Lunch und Karl Valentin schaffen Balance zwischen Verortung, Statement und Belustigung, gestreckt und gestaucht wird an allen Ecken, und wenn gerade Pause ist, darf auch kurz ein Knarzen in einen eiernden Orbit gejagt werden.
Hüpfender Punkt bei so einer Produktion sind allerdings die Beats – und siehe da, es sind freundliche: Immer hektisch, aber niemals am Anschlag, entwerfen sie den Klang einer rasanten Metropole, in der Geschwindigkeit weder Hexerei noch Fluch, sondern einfach präsent ist. Dafür, daß sie niemand einen Schrecken einjagen, sorgen die von den Elektronauten vorsorglich eingebauten Kuschelecken: Mal ist es eine gemütliche Dub-Schaukel, dann wieder lädt eine pastellbunte Fläche im Hintergrund.
Womit übrigens noch lange nicht alle Geschichten aus der Bindemittel-Crew berichtet wären: Basserin „B-One“ bzw. Yvonne Hildebrandt hat sich nämlich mit Heike Marie Rädeker (ehemals Wuhling und 18th Dye) und Kurt Kesselhaus (ehemals Locust Fudge, Hip Young Things, Sharon Stoned u.v.a.) zusammengetan, wandelt jetzt als Evonike auf den Spuren von Sonic Youth und wird gegen Ende Mai im Vorprogramm von Motorpsycho so richtig loslegen. Gunnar Lützow
Elektronauten: Collective Induced Fiction (Incoming!/ RTD)
Record-Release-Party: Elektronauten und Rope, DJ Alec Empire u.a. am 9.5. um 23 Uhr, Kalkscheune, Johannisstr.2
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