Die Mythen über Berlin

Berlin, das heißt für jeden Besucher etwas anderes. Einkaufsmekka, Fotoobjekt, Verhandlungsmasse, Erlebnispark. Berlinbesucher sind auch Menschen – und sehr unterschiedliche noch dazu. Beobachtungen aus der Übernachtungsbranche  ■ Von Patricia Morand

Es tut mir leid für Berlin, in Asien begreift man vom Flair dieser Stadt anscheinend nur das Stinkende. Horror, Diktaturen und jetzt die Neonazis. Die Weimarer Republik, der Expressionismus, der Dadaismus, die Filme von Pabst und Murnau, das Bauhaus, der Blaue Reiter, selbst Bertolt Brecht sind kein Begriff. Aus dieser Zeit kennt man nur Einstein. An meiner Tür erscheint der Nobohiko aus Osaka. Welcome to Germany! Wie alle meine Asiaten möchte er von Deutschland nur ein Stück Berliner Mauer und eine Maß Münchner Hofbräuhaus-Bier, einmal Sachsenhausen und einmal Dachau.

Die jungen Skandinavier und Westdeutschen sind da anders. Sie suchen die neue Crazy-Szene, die Avantgarde, die Freiheit, die Frechheit. Und sie finden sie, im Scheunenviertel und in dunklen Ecken von Prenzlberg und Friedrichshain. Sie brauchen keinen Führer. Es spricht sich rum. Berlin hat die verrücktesten Clubs Europas, deswegen sind sie gekommen. Nach einer Nacht im Zug schlafen sie erst mal den Tag durch. Gegen 20 Uhr sind sie fit. Sie kontrollieren, ob ihre bunten Frisuren chaotisch-korrekt aussehen, verschmutzen, falls nötig, ihre schweren, dicken Schuhe, polieren ihre metallischen, Irre-Kleidung-Accessoires und machen sich auf den Weg. Ab acht Uhr morgens kommen sie zurück, mit oder ohne Ecstasytrip, schlafen wieder bis zum Sonnenuntergang. Und erzählen mir die Happenings der Nacht: die crazy DJs und Dekorationen der Insel und des Tresors, die crazy Kunstgalerien, die crazy Squats und die crazy Klamotten-Boutiquen der Auguststraße. Der Heiko aus Norwegen kriegte sogar unterwegs akustische Environments und teuflische Klangversuche im Podewil mit. Ein Rausch! Der Berliner Ruf stimmt, sie nehmen begeistert Abschied und notieren sorgfältig meine Adresse, das nächste Mal wollen sie die Love Parade erleben.

Leonardo aus Florenz ging zum Tourist-Büro im Europacenter, schaute sich alle Berlinführer an, entschied sich für ein Konzentrat zum Preis von einer Mark. Nur das Wesentliche. Mit diesen Kurzinformationen landet er bei mir, voller Gutwilligkeit: Zur Gedächtniskirche, dann den ganzen Ku'damm hinauf soll er laufen. Von da direkt zur Infobox. Nächste Station: Brandenburger Tor, Unter den Linden etc. bis Prenzlauer Berg, mit Umwegen durch den Checkpoint Charlie, die Museen und das Nikolaiviertel. Und zurück zum Ku'damm, dem Stall der Berlinbesucher. Das tut er alles fleißig, zwei Tage lang, fügt noch das Schloß Charlottenburg und die Potsdamer Hits hinzu und erklärt sich enttäuscht. Er möchte weiter nach Prag. Halt! Er soll lernen, diese Stadt zu spüren und zu genießen, meine ich. Und so entdeckt er mit meinem Fahrrad die Mulack-, Oderberger-, Kreutziger-, Duncker- und Schliemannstraße und dazu den ganzen Süd-Osten 36. Am meisten beeindruckt ihn das Gerassel der verrosteten Räder in der absoluten Stille und Finsternis der gespenstischen Gassen. In Florenz unvorstellbar. Ciao, Leonardo, laß dich von Prag bezaubern, vermeide aber bitte den Wenzelsplatz.

Jedem seinen Mythos. Wer Berlin als Tor zum Osten sieht, bereitet meistens seine Strategien im Interconti, im Steigenberger, in Palace oder im Adlon vor. Dort wird konferiert, wie man das Monopol des Benzols oder des Kalisalzes beschafft. Wer die Stadt als Tor zum Westen betrachtet, erscheint eher bei mir und kommt meistens aus Polen, Bulgarien oder Rußland.

Hier eine Richtigstellung für das meckernde, ignorante Berliner Volk, das diese neuen Händler verachtet, auslacht und manchmal haßt: Kein eleganter Japaner, kein Schweizer Bürger, nicht mal ein Star aus den Staaten läßt in dieser Stadt soviel Geld wie meine armen Gäste aus dem ehemaligen sogenannten Ostblock zurück. Sie suchen sich zwar eine billige Unterkunft, nehmen ihre Lebensmittel mit und besuchen kein Theater und keine Kneipe, kommen aber dafür nie mit weniger als 2.000 Mark in der Tasche für das Wochenende. Viel davon geht in die Aldi-, Plus-, Wegert- und Drospa- Filialen. Das KaDeWe besichtigen sie wie einen Altar und haben von den Galeries Lafayette noch nie gehört.

In Bulgarien fehlen anscheinend noch viele Fahrzeuge. Meine drei Gäste aus Sofia gaben letztes Jahr über 100.000 Mark für Autos, Liefer- und Lastwagen aus. Sympathisch mit ihnen war der Tauschhandel, der sich entwickelte. Für ihren Schafskäse erhielten sie deutsche Kuhmilchprodukte, und jeder fühlte sich beim Geschäft als Gewinner. Einen russischen Mafiosi habe ich leider noch nicht kennengelernt. Falls es solche gibt, finden sie bessere Nester zum Übernachten.

Was die Rucksacktouristen und die Reisenden aus der Dritten Welt für die deutsche Wirtschaft bringen, wird unterschätzt. Die Punkies aus Italien verkehren nur in den piekfeinsten Shops. Meine letzten chinesischen Gäste, ein Ehepaar auf Hochzeitsreise aus Peking, kamen vom Ku'damm mit elf vollen Plastiktüten aus den besten Häusern zurück. Unter den Schätzen waren Inox-Gabeln und -Löffel; Elektronikkram interessierte sie nicht: Drei Mikrorechner hatten sie selbst ständig dabei.

Deutschland stellt für Osteuropäer einen eigenen Mythos dar: Hier beherrscht man angeblich die neuesten Wissenschafts-, Wirtschafts- und Marketingkenntnisse. Und so tauchen in Berlin ehemalige Firmendirektoren und Spitzenwissenschaftler für Fortbildungskurse auf. Tanja, 25jährige Tochter eines exsowjetischen Diplomaten wurde nach drei Wochen Schnellbildung in einer kleinen, unbekannten Schule von Schöneberg eine diplomierte Marketingspezialistin. Als sie das zweite Mal zu einem neuen Lehrgang zurückkam, war sie schon in Moskau Direktorin einer Marketingschule.

Die Berliner erleben eine steigende Panik: Die Stadt ist pleite! Arbeitslose und Obdachlose strecken die Hand aus. Diese Sorgen werden von den Berlinbesuchern vollkommen übersehen. Sie bewundern mit Enthusiasmus die Realisation mächtiger, megalomanischer Projekte in Mitte. Ich suche noch den Berliner Architekten, der nicht auf die „größte Baustelle aller Zeiten“ spuckt. Meine Architekturstudenten aus Brasilien, Frankreich und Italien sehen das ganz anders: Josef-Paul Kleihues, Jean Nouvel, Renzo Piano, O. M. Ungers, Philip Johnson, Norman Forster, Aldo Rossi, Hans Kollhoff, alle mit den kühnsten Projekten nebeneinander, in der unmittelbaren Nähe der Martin- Gropius- und Mies-van-der-Rohe- Meisterstücke! Formidable! Fantastico! Und sie zeichnen endlos Skizzen, die ganze Friedrichstraße entlang.

Große Baumeister bringen mächtige Unternehmer und bescheidene Bauarbeiter. Die wohnen auch bei mir und arbeiten hart, verdienen Hungergeld und leisten sich nicht jeden Abend ein Bier in der Kneipe um die Ecke. Dafür besorgt ihnen der Chef ein Mobiltelefon, und so sind sie mehr handy denn je. Für sie ist der Mythos Berlin definitiv passé, egal ob sie Rheinländer oder Brandenburger sind.

„Achtung! Die Kriminalität steigt in Berlin!“ Stimmt zwar nicht ganz, aber auch bei mir erscheinen immer öfter seltsame Kreaturen mit besonderen Gewohnheiten. Der Direktor einer wichtigen hessischen Postfiliale bringt zu mir eine auf der Frobenstraße gepflückte, wunderschöne Minderjährige. Sie benimmt sich zwar viel respektvoller und würdiger als er, läßt aber zwei Kanülen und Blut auf dem Boden des Zimmers als Erinnerung. Kurz danach erscheint ein Italo-Brasilianer aus der sizilianischen Mafia, der meine Wohnung als Versteck braucht, um von einem Kumpel 25.000 Mark zu klauen. Der nächste Sondermensch ist Türke, hat einen suspekten, enorm schweren Koffer, der nur Metall enthalten kann. Ein heimlicher kurzer Blick schafft Erleichterung: keine Gewehre, dafür ein paar Dutzend Goldbarren.

„Trotzdem bleibt Berlin die sicherste Hauptstadt der Welt“, behaupte ich zu Maria-Chiara und Andrea aus Bologna, die sich nicht trauen, abends auszugehen. Ich begleite sie in ein paar Lokale, damit sie etwas von den berühmten „langen Nächten“ mitbekommen. Sie freuen sich enorm. Was ein Schreck aber, als wir auf unserem Weg nach Hause auf einen bewaffneten Verrückten stoßen, der vor uns auf sieben Menschen schießt. Wir rennen, so schnell wir können, in Richtung ome, sweet home, müssen aber noch am U-Bahnhof Kurfürstenstraße eine Messerstecherei zwischen zwei Heroinhändlern erleben.

Glücklicherweise sind solche Erlebnisse extrem selten und ein Aufenthalt in Berlin immer noch aufheiternd. Meine Zimmer sind günstig mitten in der Gay-Scene gelegen, und so läuten ab und zu fröhliche Berlinbesucher bei mir. Ein Schwuler will mich überzeugen, daß heute schon sechsmal mehr Homosexuelle in der Stadt leben als in der Eiszeit. Und das soll nur der Anfang sein. Wunderbar, wie vielfältig die Welt ist: Die 35 Cafés, Bars und Klubs der benachbarten Straßen, wo diese warmherzigen Gäste verkehren, sind völlig unterschiedlich. Sie sind manchmal für MA-, manchmal für MG-Publikum. Einige sind einfach NG-Treffpunkte mit H-Begegnungsmöglichkeiten, nur wenige sind für R's, dafür aber viele für LJ's. Angenehm kann die Atmosphäre in den GLM's sein, erschreckend aber bei den GI's und U's. OG's und OGX's haben nie Streit, und besonders altmodisch sieht es in den WN's aus. Wer diese Codes nicht entziffern kann, soll einfach dort kieken und fragen. Die Szene ist gastfreundlich und hilfsbereit.

Gerade jetzt langweilen sich im schönsten Zimmer Jane und Helen aus Los Angeles. Dort wohnen sie in einem eleganten, extrem geschützten Ort der Peripherie und fühlen sich wie viele Amerikaner gar nicht safe in meinem Haus – kein Wächter, kein Alarmsystem. Sie kauften den Eine-Mark-Stadtführer und haben mich schon gewarnt: Weiter als bis zum Ku'damm werden sie nicht gehen. Drei Stationen Bus und „Hello Berlin“. Sie werden sicher viel vom weltbekannten „Flair“ der Stadt spüren.

Eines muß ich gestehen: Meine bevorzugten Gäste hießen Monika und Erika, eine Mutter mit ihrer Tochter auf dem ersten Trip zum wilden Westen. Das Ereignis fand erst dieses Jahr statt. Wir liefen zusammen 100 Meter in meiner Straße und brauchten dafür eine halbe Stunde. Jede Fassade, jede Tür, jedes Geschäft, jeder Mensch drum herum war für sie ein Grund zum Staunen, Lachen oder Erschrecken. Unglaublich spannend fanden sie einen Laden, der DDR- Kleinmöbel, -Lampen und -Geschirr anbietet. Daß die Wessis so was kaufen! Trotzdem entfernten sie sich eine Woche lang kaum vom Alexanderplatz. „Wir gehören zum Osten“, entschuldigten sie sich. Sie waren aus Fürstenwalde. Der Ort gehört zum S-Bahn Einzugsgebiet von Berlin.