Ein Kampf um Kafka

Bei Stroemfeld soll eine faksimilierte Kafka-Werkausgabe erscheinen. Doch der Zugang zu den Handschriften bleibt dem Verlag verwehrt  ■ Von Jürgen Berger

Eines zumindest haben der Frankfurter Stroemfeld Verlag und die Heidelberger Herausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe mit ihrem Wunsch nach Reproduktion der Originalmanuskripte Franz Kafkas erreicht (siehe taz vom 7.5.). Die Nebel um die Besitz- und Urheberrechtslage der Handschriften, die in der Oxforder Bodleian Library lagern, lichten sich. Besitzerinnen sind die in London lebende 84jährige Kafka-Nichte Marianne Steiner sowie zwei Prager Nichten des Jahrhundertzauderers, dessen Schuldlabyrinthe zum Inbegriff einer undurchschaubaren Moderne geworden sind. Der Wert dieser Manuskripte wird auf knapp 300 Millionen Mark geschätzt, Tendenz steigend. Als die „Prozess“-Handschrift für das Marbacher Literaturarchiv angekauft wurde, wanderten umgerechnet 3,1 Millionen Mark über den Ladentisch bei Sotheby's.

Kafka selbst wollte seine Manuskripte eigentlich vernichtet wissen, Freund Max Brod kam dem Wunsch allerdings nicht nach und bescherte der Nachwelt die wohl ehrenwerteste Illoyalität der Literaturgeschichte. Einzige Holocaust-Überlebende der Kafka-Familie sind die drei Nichten, an die der Nachlaß ging und die sich eigentlich im Hintergrund halten. Letztes Wochenende allerdings kam es zu eher unenglischen Ausführungen der Londoner Nichte, die dem britischen Observer gestand, den „linksradikalen“ Frankfurter Stroemfeld Verlag zu hassen. Die Manuskripte bekäme dieser Verlag nie zu Gesicht, da ihrem Onkel sicherlich nicht gefallen hätte, seine Werke in einer derart „linken“ Organisation publiziert zu wissen. Und das, obwohl die gerade erschienene Faksimile-Ausgabe von Kafkas „Der Prozess“ aus dem Hause Stroemfeld von allen Seiten gelobt wird.

Wo derart scharf geschossen wird, geht es um Geld und Macht. Seit dem 1. Januar 1995 – 70 Jahre nach Kafkas Tod – sind die Rechte an seinem Werk frei. Eigentlich müßte die ehrwürdige Oxforder Bibliothek, die als Sachwalterin der Nichten fungiert, die Handschriften für interessierte Wissenschaftler wie die beiden Germanisten Roland Reuß und Peter Staengle zugänglich machen. Die wollen ihre Faksimile-Ausgabe voranbringen, alle Kafka-Handschriften per EDV erfassen und gescannte Originale nebst Umschrift präsentieren. Werden solche Wünsche geäußert, sind Bibliotheken in der Regel kooperationsbereit. Die Krakauer Universität etwa, die in ihrer Jagiellonischen Bibliothek unter anderem Originalmanuskripte von Beethoven, Mozart und Rahel Varnhagen lagert, gewährt Wissenschaftlern uneingeschränkten Zugang und erlaubt Reproduktionen.

So sollte es sein. In Oxford allerdings bitten Reuß und Staengle seit Jahren vergeblich um Einlaß zu den Manuskripten. Der Türhüter der Handschriften, Sir Malcolm Pasley, weist sie schroff zurück. Zwar müssen Handschriften nicht unbedingt „jedem und immer zugänglich sein“ (Kafka: „Vor dem Gesetz“), klopfen allerdings derart renommierte Wissenschaftler wie Reuß und Staengle an, müßte sich eigentlich jede Tür öffnen.

Der Grund für die Oxforder Sprödigkeit: Professor Pasley wurde von Marianne Steiner als Kurator des Handschriftenschatzes eingesetzt, ist aber gleichzeitig einer der Kafka-Herausgeber bei S. Fischer, dem Branchenriesen im deutschen Verlagswesen. Eine einmalige Doppelfunktion, die Pasley bis August 1997 innehatte. Er verwaltete und verwertete gleichzeitig ein kostbares Gut öffentlichen Interesses, was so wirkt, als engagiere die Stadtbücherei Frankfurt einen neuen Türhüter zur Regelung des Besucherstromes, worauf der sofort die Bibliothek verschließt und sich zum Alleinleser ausruft.

Da Pasley schwer krank ist, hat sich ein neuer starker Mann im Herausgebergremium des S. Fischer Verlages herauskristallisiert: Hans-Gerd Koch von der Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur an der Wuppertaler Universität. Koch sorgt nun für eine weitere Verschärfung der Tonlage: „Frau Steiner ist deshalb nicht gut auf den Stroemfeld Verlag zu sprechen, weil man dort auch vor ziemlich üblen Dingen nicht zurückschreckt. Man wirft Pasley indirekt vor, er unterdrücke hebräische Aufzeichnungen von Kafka, womit Pasley in die Nähe eines Antisemiten gerückt wird“, sagt Koch und bezieht sich auf einen Aufsatz von Roland Reuß, in dem Fehler und Lücken in der Fischer-Ausgabe nachgewiesen werden.

Koch argumentiert weiter, der Stroemfeld Verlag wolle Geld mit der Faksimile-Ausgabe verdienen, und deshalb sei der moralische Anspruch „fragwürdig“, mit dem man auftrete. Ein „grotesker Vorwurf“, sagt Stroemfeld-Chef K.D. Wolf: „Jeder kann an fünf Fingern abzählen, wieviel Profit wir mit dem sechzehnbändigen Faksimile von ,Der Prozess‘ machen, wenn 600 Vorbestellungen vorlagen. Unsere historisch-kritischen Ausgaben sind ohne die Stroemfeld-Fördergesellschaft privater Liebhaber nicht denkbar. Im übrigen bin ich bereit, alle Zahlen unserer Kafka- Ausgabe offen zu legen, wenn der Fischer-Verlag das auch tut.“ Für Fischer geht es, wie Branchenkreise schätzen, um Jahreseinnahmen von etwa einer Million Mark, die auch bei Veröffentlichung faksimilisierter Kafka-Handschriften nicht von heute auf morgen versiegen würden. Man verlöre allerdings das Interpretationsmonopol und die Kontrolle über die zukünftige Verwertbarkeit.

Derzeit funktioniert diese Kontrolle noch. Verlag, Herausgeber und die Oxforder Bibliothek geraten mit ihrer unendlichen Geschichte des Verzögerns allerdings immer mehr in die Defensive. Die Bodleian Library etwa teilte dem Stroemfeld Verlag vor wenigen Tagen in einem Fax mit, man müsse zuerst einmal die vier Kartons des Kafka-Nachlasses sichten, was sich so anhört, als wimmele eine versierte Hausfrau unliebsamen Besuch mit den Hinweis ab, sie wohne jetzt zwar schon seit Jahrzehnten im neuen Haus, habe ihre Zahnbürste aber noch nicht ausgepackt. Eine bevorstehende Renovierung der Bibliothek dürfte weitere Verzögerungsmöglichkeiten bieten. Der Stroemfeld Verlag jedoch hat unterdessen prominente Schützenhilfe bekommen. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom und der Schriftsteller Louis Begley fordern in einem Appell, „der gesamten Öffentlichkeit einen kostbaren Einblick in die Werke dieses großen Genies unseres Jahrhunderts“ zu erlauben und werfen eine grundsätzliche Frage auf: Ob die lesende Öffentlichkeit, die seit mehr als einem halben Jahrhundert für den steigenden Wert der Aktie „Kafka“ sorgt, nicht ein Recht auf Einsicht in dessen Handschriften hat?