Merkels Halbwertszeit wird kürzer

■ Nach den Enthüllungen über die verstrahlten Atomtransporte gerät die Umweltministerin unter Druck. FDP fordert als Regierungspartei aktuelle Stunde im Bundestag zu Castor-Lügen. Anzeige gegen Atombehörde erstattet

Bonn (taz/rtr) – Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) gerät im Zusammenhang mit den überhöhten Strahlenwerten bei Castor-Transporten immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik. SPD, Bündnisgrüne und FDP wollen, daß sich der Bundestag in der nächsten Woche mit dem Thema befaßt. Inzwischen wurden bereits erste Rücktrittsforderungen aus den Reihen der Opposition an die Adresse der Ministerin laut. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) hat gestern wegen der verstrahlten Transporte Strafanzeige gegen das Bundesamt für Strahlenschutz erstattet. Der BBU wirft der Behörde die rechtswidrige Erteilung von Transportgenehmigungen vor.

Die Gesellschaft für Strahlenschutz warf der Bundesregierung und der Atomindustrie gestern vor, die Bevölkerung für dumm zu verkaufen. Den Menschen werde Sicherheit vorgegaukelt, um Atommüll billig entsorgen zu können, sagte der Präsident der Gesellschaft, der Strahlenbiologe Wolfgang Köhnlein. Als Unverfrorenheit bezeichnete Köhnlein die Aussage Merkels, durch die erhöhte Strahlung bei den Transporten habe keine Gefahr für Menschen bestanden. Grenzwerte würden doch gerade dazu vereinbart, um mögliche Schäden zu minimieren.

Ausgerechnet der Regierungspartner FDP beantragte gestern in Bonn als erste Partei eine aktuelle Stunde im Bundestag zu den Vorfällen. Generalsekretär Guido Westerwelle forderte personelle Konsequenzen in den Chefetagen der Energieanbieter. Wer etwas vertuscht habe, müsse seinen Hut nehmen. Noch vor gut zwei Jahren plagten den FDP-Politiker ganz andere Sorgen. Im März 1996 warnte er vor einer „Demontage des Rechtsstaates“ durch Demonstranten, die versucht hatten, die Castor-Transporte zu blockieren.

Es sei unerhört, hieß es auch in dem der Kernenergie traditionell freundlich gesonnenen Wirtschaftsministerium, daß die Politik mit massiven Polizeieinsätzen Castor-Transporte schütze, während die Atomindustrie den Ruf der Castoren aufs Spiel setze.

Oppositionspolitiker sehen die Grundwerte der Gesellschaft von ganz anderer Seite als den Castor-Gegnern bedroht: „Jahrelang sind aus ökonomischen Interessen der Atomlobby die Sicherheitsinteressen der Menschen vernachlässigt worden“, erklärte etwa Klaus Lennartz (SPD) in einem Zeitungsinterview. Er bezweifelt, daß Angela Merkel wirklich erst Ende April von den überhöhten Werten erfahren habe. Sollte sich das als Falschaussage herausstellen, müsse Merkel zurücktreten. Die Frage nach ihrer politischen Verantwortung stelle sich aber auch, wenn die Atomindustrie die Meldungen bewußt zurückgehalten habe.

Angela Merkel sieht derzeit keinen Anlaß zurückzutreten. „Meine politische Verantwortung sehe ich in der Aufklärung der Vorgänge“, erklärte sie gestern. Sie fordert nun verschärfte Auflagen für künftige Atomtransporte und will länderübergreifend ein atomrechtliches Überwachungssystem zusammen mit Frankreich schaffen. BG Tagesthema Seite 3