„Das ganze Leben steht kopf“

Laufen lernte er mit drei: Der achtjährige Tom lebt mit dem genetischen Zufall. Er wurde mit dem Down-Syndrom geboren  ■ Von Lisa Schönemann

Begeistert läßt Tom seinen Dinosaurier in den Schwanz des Plastik-Tigers beißen. Der Achtjährige freut sich über den Triumph des Dinos. Er hockt im Schneidersitz auf dem Teppich und hält Ausschau nach dem Dritten im Bunde. Doch sein Eisbär scheint sich mit den anderen dreißig Tieren in einem Korb verkrochen zu haben. Im nächsten Augenblick unterbricht der Junge sein Spiel, springt auf und nimmt auf Strümpfen sicher die geflieste Kurve im Flur: „Wann sind die Nudeln endlich fertig?“

Eine einfache Frage. Doch längst nicht alle Kinder mit Down-Syndrom sind in ihren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten so weit wie Tom. Viele müssen sich mit Lautfolgen oder Gebärden behelfen. Tom wird ungeduldig und stellt sich auf die Zehenspitzen. Mit seinen 116 Zentimetern gelingt es ihm dennoch nicht, in den Topf zu gucken. Er ist gut einen Kopf kleiner als gleichaltrige Kinder.

Tom-Kristian Krohn wurde am 3. Januar 1990 geboren. Keiner der Ärzte im Kreißsaal hatte den Mut, den glücklichen Eltern zu eröffnen, daß ihr Erstgeborener mit einer Behinderung zur Welt gekommen war. Der Oberarzt murmelte kaum vernehmlich etwas von einem „Bluttest“. Erst auf dem Flur konnte der Polizeibeamte Michael Krohn den Mediziner zur Rede stellen: „Er wehrte sich mit Händen und Füßen, rückte dann aber auf mein Drängen hin doch mit der Diagnose heraus.“ Der Vater sieht sich noch heute auf dem Krankenhausflur stehen „wie der Ochs vorm Berg“. Andere Eltern werden erst Wochen nach der Geburt mit der Chromosomenanomalie ihres Kindes konfrontiert.

Kerstin und Michael Krohn aus Hamburg-Lemsahl – beide damals 30 Jahre alt – erfuhren vollkommen unvorbereitet, daß ihr Sohn geistig behindert ist. Eins von vielleicht 1.500 Kindern in Deutschland wird mit dem Down-Syndrom geboren. „Egal, was man macht, das ganze Leben steht kopf“, beschreibt Kerstin Krohn die Mischung aus Hoffnung und Bangen.

Freunde und Verwandte machen den Start in das Leben mit einem behinderten Kind nicht eben leichter. Beim ersten Besuch vermeiden sie den Blick auf das Neugeborene. Ein Kollege erkundigte sich verlegen, ob er „überhaupt zu dem Kind gratulieren“ solle. „Warum ausgerechnet wir?“ Kerstin und Michael Krohn haben die Frage, die sich alle Eltern in vergleichbarer Lage stellen, für sich beantwortet: „Gerade wir. Besser konnte Tom es nicht treffen.“

Beim Verein „Lebenshilfe“ in Hamburg gibt es vier Selbsthilfegruppen für Eltern mit geistig behinderten Kindern. „Wir haben damals eine Familie gefunden, die wohnte um die Ecke“, erinnert sich Michael Krohn. Dort erfuhren sie von der Gaumenplatte, die aussieht wie eine Zahnregulierungsklammer. Sie wird an den Gaumen gelegt und hat in der Mitte einen kleinen Nippel. Die heraushängende Zunge des Kindes soll durch das Spielen daran trainiert werden. Für Krohn ist das „Insiderwissen, das man nur in der Selbsthilfegruppe erhält“.

Andere Paare zerreiben sich. Die einen ziehen sich zurück, die anderen stürzen sich in sämtliche verfügbaren Ratgeber, um zu begreifen, warum ihre Kinder anders sind als andere. Weil das Chromosom 21 dreimal statt zweimal vorhanden ist, wird die Behinderung auch Trisomie 21 genannt. Die bekanntere Bezeichnung ist jedoch Down-Syndrom, nach dem englischen Arzt J. Langdon H. Down, der 1866 erstmals die Charakteristika der Abnormität beschrieb.

Die Ursache für das Auftreten des Down-Syndroms ist bis heute unklar. Die Chromosomenveränderung ist nicht rückgängig zu machen. Oft gehen mit dem Syndrom bestimmte Erkrankungen einher: Etwa ein Drittel der Kinder hat einen Herzfehler, viele haben Magen-Darm-Probleme, Hör- oder Sehschwächen. Down-Kinder lernen Sprechen, Krabbeln oder Laufen wesentlich später als andere.

Tom mußte am dritten Tag nach seiner Geburt wegen seines Herzfehlers auf die Intensivstation des AK Heidberg verlegt werden. Im Alter von zweieinhalb Jahren ließen die Eltern ihn im Berliner Herzzentrum operieren. „Nach zwei Tagen saß er im Buggy und aß Eis“, das Bild hat Kerstin Krohn heute noch vor Augen. „Nach drei Wochen durften wir ihn mit nach Hause nehmen.“ Seither lebt der Kleine ohne kardiologische Probleme.

Schon wenige Wochen nach der Geburt hatten Toms Eltern nach einer geeigneten Frühförderung gesucht. Für die Familie bedeutete das: Der Tagesablauf richtet sich nach dem Therapieplan des Kindes. Am Anfang fuhren sie dreimal pro Woche zur Krankengymnastik. Nach einem halben Jahr begann die gezielte Förderung im Werner-Otto-Institut. Das pädiatrische Zentrum gehört zur Stiftung Alsterdorf.

Die Fülle von Terminen war kaum zu bewältigen. Michael Krohn arbeitete im Schichtdienst, Kerstin Krohn in einem Wollgeschäft. Einigermaßen stolz verweisen beide darauf, daß Tom im Alter von drei Jahren die ersten Schritte machte. „Erst ging es nur wenige Meter. Dann konnte er laufen.“ Mindestens ein Jahr lang krabbelten beide neben Tom auf dem Boden herum. Das war für ihn das sicherste Terrain.

Anfangs fanden die Krohns keinen Platz in einem Integrationskindergarten. „Eltern behinderter Kinder rennen sich die Hacken ab, um ihre Dreijährigen gut unterzubringen“, weiß Kerstin Krohn. Bei der Schule hatten sie mehr Glück: Tom geht in eine Integrationsklasse in Ohlstedt, in der Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam Lesen und Schreiben lernen. Und: Tom hat die Nase vorn.

Seine Eltern wissen, daß er in der Grundschule mithalten wird, auch wenn er gleichaltrigen Fußballern in der Pause körperlich nicht gewachsen ist. Außerdem sind die Lernfähigkeiten von Down-Kindern begrenzt, wenn es über die Grundrechenarten hinausgeht. „Diese Schere wird sich irgendwann in der dritten oder vierten Klasse auftun“, so der nachdenkliche Vater, „dann werden sich die Wege der Kinder trennen.“