Tony im Wunderland Von Ralf Sotscheck

Er ist eben ein echter Volkspremier. Tony Blair, ein Mensch wie du und ich, ißt gerne mal in einem ganz normalen Restaurant. Wie bekommen bloß die Fotografen immer Wind davon und tauchen rechtzeitig auf, um Bilder vom grinsenden Regierungschef, umringt von zufälligen Mitessern und glücklichen Wirten, zu schießen?

In Wirklichkeit sind die Blairschen Speisungen der Alptraum jedes Restaurantbesitzers. Einer hat im Independent ausgepackt. Andrew und Alison Brownlee betreiben ein Café in Altrincham in der Grafschaft Cheshire – Blairs Lieblingsgrafschaft, kommt bei „Alice im Wunderland“ doch eine „Cheshire Cat“ – zu deutsch: Grinzing- Katze – vor, die stets irre grinst. Eines Tages tauchten die Vorboten des Grinzing-Katers aus der Downing Street auf, um das Etablissement auf seine PR-Tauglichkeit zu prüfen. Voraussetzung war, daß die Brownlees ihr Café während der bedeutsamen Teestunde dichtmachten. Das Risiko, einem aus dem Volk zu begegnen, der noch nicht zu New Labour konvertiert war, wollte man nicht eingehen. Die Brownlees mußten auf das Labour-Wahlmanifest schwören, daß sie den Grund für die vorübergehende Schließung keiner Menschenseele verraten würden, sonst würde das Schau-Essen platzen und der Premier nebst Gattin seine Mahlzeit bei der Konkurrenz einnehmen.

Dann nahte der für Altrincham so bedeutende Moment. Zwei Stunden zuvor kam erst mal eine Meute von Labour-Mitarbeitern und richtete das Lokal neu ein. Tische, Stühle und Wanddekorationen wurden hin und her gerückt, bis der Essensvorbereitungsstab zufrieden war. Und wieder kam einem das Märchen in den Sinn, das soviel Ähnlichkeiten mit New Labour hat: „Es war wie bei Alice im Wunderland“, erzählte Andrew Brownlee, „als die Soldaten die Rosen im Palast rot angestrichen haben, bevor die Königin eintraf.“

Plötzlich war der Schlüssel für das Büro unter der Treppe weg. Die Sicherheitsbeamten witterten ein Waffenlager oder einen Tory- Wähler hinter der Holztür und brachen sie auf. Die Brownlees hatten den ganzen Vormittag damit verbracht, die Bude auf Hochglanz zu bringen. Alles, was herumlag, hatten sie kurzerhand ins Büro unter der Treppe geworfen. Das steuerte Blair, als er endlich eingetroffen war, zielsicher an, um sich für die Fotografen schminken zu lassen. Nachdem er sich aus dem Chaos wieder befreit hatte, bestellte er eine Tasse Tee. Ein Dutzend New-Labour-Funktionäre schwärmten aus: Einer half beim Wasserkochen, der nächste kontrollierte den Teebeutel, und die anderen zehn wiederholten die Bestellung, damit Brownlee nicht etwa versehentlich Hühnersuppe servierte. Doch der hatte verstanden: „Elf Tassen Tee also?“ Nein, riefen sie im Chor: Nur eine einzige Tasse für den Premier. Man war ja nicht zum Vergnügen da.

Am nächsten Tag waren die Fotos auf allen Titeln: die Blairs in einem kleinen Familienrestaurant. Wie volksnah! Nur ein paar Stammkunden hatten das nicht mitbekommen. Als Brownlee erzählte, daß sie den historischen Besuch des normalsten Premiers aller Zeiten verpaßt hatten, sagten sie höhnisch: „Macht nichts, wir gehen zu McDonald's, da verspeist die Queen in einer halben Stunde öffentlich drei Cheeseburger mit Pfefferminzsauce.“