Brot und Hosen

Sättigungsbeilagen im Distributionsprozeß  ■ Von Gabriele Goettle

Donnerstag. Seiteneingang der Kirche am Südstern. Die Armen versammeln sich in Erwartung des Frühstücks und der Kleiderausgabe.

Erwin nähert sich der Kirche. Er hat die Größe und Gestalt eines Kindes, sein graublondes Haar hängt ihm vorn bubenhaft ins faltige Gesicht und wippt bei jeder Bewegung auf und ab. Er ist sechzig und hat erst kürzlich erfahren, daß seine richtigen Eltern in Königsberg in der Synagoge gemeldet waren und wahrscheinlich in einem der Ghettos oder Vernichtungslager gestorben sind, (während man Erwin als blondes blauäugiges Kind im Rahmen der „Heuaktion“ auswählte, nach Deutschland verschleppte und „artgerechten“ Eltern übergab, von denen er wohl auch den Namen Erwin bekam). Als Erwin von seiner Herkunft erfuhr, war sein heißester Wunsch, einmal nach Königsberg zu fahren. Aber das ist so gut wie ausgeschlossen. Er hat einen amtlich bestellten Pfleger, ist Sozialfall, besitzt keinen Menschen, der ihn auf solch einer Reise begleiten könnte. In letzter Zeit spricht er kaum noch davon. Und selbst wenn er es täte, würde man ihn amtlicherseits kaum verstehen. Es sind nicht nur die fehlenden Zähne, die ein Nuscheln bewirken, auch die Artikulation ist ungewöhnlich und wird durch schnelle Sprechweise noch unverständlicher.

Ich habe fast ein Jahr gebraucht, bis ich Erwins ureigene Sprechweise lernte. Dabei zeigte sich, daß nicht das genaue Zuhören am erfolgreichsten war, sondern ein intuitives Lauschen vor dem Wortschwall. Er erleichtert einem das Verstehen allerdings durch einen unglaublichen Reichtum an Gesten, die oft eine geradezu altertümliche Originalität und Drastik haben. Wenn er sich vorbeugt, um der Welt den Arsch zu zeigen und dazu mit den Händen wehende Bewegungen über seinem Hintern macht, die von der Vielzahl der Fürze künden sollen, mit denen er sich seiner Feinde erwehrt, dann ist es, als sei er den allegorischen Bildern Breughels entstiegen. Sein Mienenspiel hingegen ist reduziert auf einen Ausdruck zwischen Empörung und Überraschung, und lediglich die flink hin- und herblickenden Augen lassen es lebhaft erscheinen. Er lächelt so gut wie nie, auch nicht zu seinen sarkastischen Bemerkungen, die er, wie alles andere, mit tütenförmig vorgestülpten Lippen spricht. Kaum angekommen, grüßt er hastig und beginnt, wie üblich, ohne jede Einleitung zu erzählen:

Tatsache ist, daß Kühlschränke kaputtgehen und das Essen plötzlich verfault. Erst merkst du mal gar nichts, dann stinkt's. Ich dachte mir, nehmen wir mal an, es ist der Kühlschrank, was dann? Ich hab Bescheid gesagt beim Pfleger, aber meinste, da kümmert sich jemand. Das interessiert die nicht, die Herrschaften. Seitdem red' ich mit denen kein Wort mehr, aus! Aber es läuft mir kalt den Rücken runter bei dem Gestank. Ich krieg' immer Angst, daß mir das auch mal passiert, wenn's so weitergeht und sich keiner um mich kümmert. Ich hab' mir auch schon wieder den Kopf angehauen, hab' mir weh getan, war weg.“ Er macht kreisende Handbewegungen über seinem Kopf. „Wie oft mir das passiert, das kann ich gar nicht mehr zählen, weißte! Die engen Wege sind schuld, durch die ich immerzu gehen muß. Du hast die doch alle gesehen hier, die ganzen Menschen, die vom Handaufhalten leben müssen. Aber keiner von denen haut sich den Kopf soviel an wie ich. Woran liegt denn das? Ich bin doch nicht zu bekloppt oder was! Die sollen uns doch mal aufbau'n, lieber. Aber die sitzen nur da wie die Kartoffelsäcke, der Pfleger und alle. Was ist denn nur mit den ganzen Leuten überall los, warum sind die blind? Warum machen sich die keinen Kopf über die andern Leute, die nichts haben. Die oben werden immer reicher und wissen nicht, wohin mit ihrem vielen Geld. Und ich hab nich' mal 'nen Kühlschrank bei der Hitze. Du, ich sag' dir was, das Geld wird immer weniger für uns, immer weniger. Die Leute kriegen kalte Beene vor Sorgen, wenn se abends ins Bette gehen, die kriegen alle die Schwindsucht und sonstwas. Und weißte warum? Sie haben nicht gebetet zum Herrn Jesu, der oben im Himmel rumfliegt.“ Er beugt sich vor, hebt wie ein Schlittschuhläufer ein Bein und wedelt mit den Armen. „Aber ich bete fleißig, jeden Abend, jeden Morgen. Ich sage: Rette mich, oder leck mich am Arsch! 'ne neue Hose wäre auch fällig. Danke.“

Der Antiquar steigt mühsam die Treppen herauf und hält sich am eisernen Geländer fest. Oben angekommen, setzt er seine Hamstertasche ab, gibt mir matt die Hand, grüßt in die Runde und blickt mich mit einem blutunterlaufenen linken Auge verdrossen an: „Siehste, was passiert ist? Ich bin durch den Wolf gedreht. Erst am Auge. Ein kleiner chirurgischer Eingriff, haben sie gesagt, nur ein bißchen was abtragen von der Hornhaut – das war ja nur eine ganz kleine Wucherung, dir war die doch nicht mal aufgefallen, oder? Nun haben sie es verpatzt und müssen es noch mal machen.“ Erwin steht schweigend daneben und schaut von unten herauf skeptisch ins Gesicht des Antiquars, zupft mich dann am Ärmel und sagt: „Ich komm gleich wieder, geh nur mal zum Kiosk hin.“ Der Antiquar lehnt sich ans Mäuerchen und atmet bereits freier. „Du, und dann muß ich dir erzählen, daß ich bei Monsieur Roland, bei seiner Adresse in der Pariser Straße war. Die Haustür stand offen, sie ham grade gewischt. Ich bin rein und mit dem Aufzug hochgefahren. Er sagte doch immer acht Treppen, stimmt's? Das war's aber nicht. Fünf Treppen fährt der Fahrstuhl nur und eine Treppe muß man zu Fuß noch hochsteigen. Also er wohnt sechs Treppen! Warum er das nicht zugeben wollte? Sein Name jedenfalls steht an der Wohnungstür. Ich hab geklingelt, aber nichts rührte sich natürlich. Und stell dir vor, die ganze Tür, von oben bis unten ist vollgeklebt mit Zetteln, Plakaten und Postern. Ich hab was abgemacht, für dich, hier.“ Er fördert aus den Tiefen seines Beutels ein etwas angeschmutztes, zerknicktes Briefkuvert hervor und reicht es mir. In Rolands Schrift steht untereinander: RUHE please, REGIE AUFNAHME. berlin, 1. August 1997.“ Der Antiquar schaut hoch zufrieden und sagt: „Siehste, ich hatte doch recht, der ist in die Anstalt zwangseingewiesen worden, sonst würden sie nicht seine Wohnung so lange weiterbezahlen und seine Telefongrundgebühr – wenn er einfach nur so nach Paris abgehauen wäre. Es war da auch noch ein anderer Zettel von ihm, darauf stand: WENN IHR DENKT, ICH BIN DA: FALSCH! Und einer hat einen Zettel angemacht da stand: Ich wollte mit Dir Kaffee trinken, aber Du warst nicht zu Hause.“

Der Antiquar hat das Büschelchen Überweisungsformulare in der Hand, auf deren Rückseite er sich zu Hause jedesmal Notizen über all das macht, was er mir sagen und mich fragen möchte. Den erledigten Zettel steckt er jeweils nach hinten. „Ach ja“, sagt er hastig, „ich hab' auch noch Leute gefragt nach ihm, Mieter, die kennen ihn gar nicht. Also kann das ja auch nicht stimmen, daß er alle im Haus störte. Ich hab ihm auch ein Kärtchen an die Tür geklebt und draufgeschrieben: Ich war da!“ Er tupft sich vorsichtig die Augenwinkel mit einem Papiertaschentuch und erzählt, während Erwin zurückkommt, weiter: „Und dann noch... Ach je, diesmal haben sie mich gequält! Ich war doch wieder zur Magenspiegelung. Die Spritze hat überhaupt nicht geholfen. Der Schlauch wollte und wollte nicht reingehn, dann ging's auf einmal. Ich habe auf dem Bildschirm zugeguckt, sogar in Farbe, da war alles weiß, alles voller weißer Punkte. Sonst hat er mir immer einen Bericht mitgegeben, diesmal sagte er, er schickt die Ergebnisse. Meinst du, daß da was ist?“

Erwin schürzt die Lippen, runzelt die Stirn und sagt erregt: „Mich haben sie auch gequält, sie haben mir Spritzen verpaßt, hier unten ins Bein.“ Er beugt sich geschmeidig nach hinten und klopft sich auf die rechte Wade. „Hier und hier. Die hat richtig grob reingedrückt mit der Nadel. Ja sind die denn verrückt oder was? Ich bin doch kein Mustopf, mit dem man so umgehen kann, was! Und dann? Meine Krampfadern gehen vielleicht weg, aber was ist mit meinem kaputten Kühlschrank? Alles stinkt, und ich soll mir Sorgen machen um Krampfadern? Das ist doch Scheiße, so was. Ich weiß, was kommt: Sie wollen in meine Wohnung rein, nachkontrollieren, ob alles auch wirklich kaputt ist. Da reagiere ich giftig, auf so was. Denen zeige ich meinen Arsch, denen scheiße ich ins Gesicht! Ich laß mich doch nicht in meiner eigenen Wohnung kontrollieren? Ich will das nicht, aus! Lieber lebe ich mit dem Gestank. Aber sag mal ehrlich, das ist doch nicht in Ordnung, daß man einen ausgewachsenen Menschen so behandelt?“

„Nein!“ sagt der Antiquar, der mit jedem sich gut versteht, „nein.“ Ein Mann Mitte fünfzig, mit naß gekämmter Proletenfrisur, einfältigem Gesicht, beiger Kunststoffhose, kurzärmeligem weißem Hemd und Sandalen mit weißen Socken, sagt in breitem Sächsisch: „Nä, man wird überall behandelt wie der letzte Dreck. Wir waren doch auch mal alle ganz normale Menschen, die ihre Steuern gezahlt und ihrer Kinder großgezogen haben.“ Erwin und der Antiquar dementieren fast gleichzeitig, je Kinder großgezogen zu haben. „Macht auch nichts“, sagt der Sachse, „jedenfalls können wir nichts dafür, daß wir nu hier gelandet sind. Und wir Ossis, wir werden ja noch mehr in die Ecke gedrängt, benachteiligt und schief angeschaut. Erst ham die Politiker uns wiedervereinigt, dann ham sie auf uns gespuckt!“ Der Antiquar studiert den Sachsen aufmerksam durch seine getönten Brillengläser und sagt: „Na also, ich muß schon sagen, die Ossis sind anders. Beispiel: 50 Jahre Luftbrücke ham wir ja jetzt. Der amerikanische Präsident kommt nach Berlin und feiert mit den Berliner am Flugplatz Tempelhof. Dafür gab's Freikarten, die wurden gerecht auf alle Berliner Bezirke verteilt und konnten dort abgeholt werden von der Bevölkerung. Im Westen standen die Leute Schlange, und die Karten waren bald weg, im Osten wurden 19 abgeholt, der Rest blieb liegen.“ Der Sachse ruft mit ehrlicher Verlegenheit: „Ich wußte nichts von Karten!“ „Es stand groß in der Zeitung!“ sagt der Antiquar freundlich, und der Sachse erklärt resigniert: „Siehste, ich lese keine Zeitung mehr... Nicht mal mein Horoskop weiß ich.“

Ein junger, kahlgeschorener Kraftmensch, der sich längere Zeit im Trainingsraum einer Justizvollzugsanstalt die Muskeln gestählt hat, wirft seine Kippe auf den Boden, vor die Füße des Sachsen, und tritt sie kraftmenschenhaft aus. Dann faßt er ihn ins Auge und sagt: „Erzähl mir nix! Die Ossis, die haben gar keine Zeit für so was. Kein Interesse und keine Zeit. Der Ossi, der geht grade mal bis zum Arbeitsamt, bis zum Sozialamt, bis zu Aldi, und mehr interessiert ihn nicht. Dann ist Ruhe, dann geht er nach Hause und legt sich hin zum Schlafen. Der Ossi, der ist nämlich immer müde, vom Fernsehen und von dem ganzen Streß. Der würde sich niemals Freikarten holen, auch nicht fürs Kino oder fürs Theater. Der legt sich lang und verpennt sein Leben!“ Der Sachse ist einen Schritt zurückgetreten und sagt beschwichtigend: „Ich weiß schon, wie du es meinst... Aber solche Probleme wie heute, die haben wir ja noch nie gehabt, das haben wir nicht kennengelernt, daß man vollkommen auf sich gestellt ist und betteln gehn muß beim Staat, weil sie einem den Betrieb dichtgemacht haben. Nehmt mal meine Mutter, die wohnt seit fast 50 Jahren in derselben Wohnung. Altbau, nicht groß, Kohlenfeuerung in der Küche, aber wir hatten's immer gut und warm da, früher, als ich noch klein war. Vor der Wende kostete die 40 Mark genau. Heute bezahlt meine Mutter 585 Mark, und sie kriegt nur die kleine Sterberente meines Vaters, sie hat 970 Mark. Davon muß sie alles bestreiten, denn sie will nicht hingehn und Sozialhilfe und Wohngeld beantragen, sie will das nicht. Und solche gibt's viele im Osten, von denen weiß niemand was, die leben von Tütensuppe und gehn fast nie aus dem Haus. Ich wollte nur sagen, daß es nicht so einfach ist.“

„Einfach, einfach!“ ruft der Kraftmensch aus. „Für niemand ist es einfach, ich habe auch Frau und Kind und nichts auf der Naht! Aber man muß eben sehen, wie man was ranschafft.“ „Letztes Mal hattest du ja Pech!“ sagt der Antiquar kichernd, und der Kraftmensch brummt. Ehe ihm etwas einfällt, tritt ein mittelgroßer Mann in zweifarbigem Trainingsanzug näher und sagt: „Nicht erwischen lassen, das ist das Wichtigste. Mich haben sie nicht rangekriegt. Ich geh arbeiten als Altenpfleger und trotzdem bezahlt das Sozialamt meine Miete und alles. So bescheuert sind die nämlich!“ „Ja wie denn?“ fragt der Sachse, während der Kraftmensch abwinkend davongeht. „Paß uff!“ erzählt der Altenpfleger. „Ich hab' 'nen Offenbarungseid geleistet, verstehste? Und nun hab' ich dreißig Jahre Ruhe vor Gläubigern und allem. Da könnte ich jetzt in aller Ruhe 'nen Unfall baun, und der Geschädigte müßte dreißig Jahre warten auf sein Geld. Das ist wie ein Jagdschein.“

Der Sachse hört verwirrt, aber bewundernd zu. „Als Altenpfleger geh' ich arbeiten und verdiene 800 Mark im Monat, ich achte immer drauf, daß ich unter dem Satz bleibe. An mein Gehaltskonto, da ist noch niemand drangegangen!“ „Ich hab nur 320 im Monat für mich“, sagt der Sachse mit verlegenem Lachen. Der Altenpfleger zuckt mit den Schultern und fährt fort: „Meine Wohnung ist eingerichtet im Werte von 30.000 Mark!“ Der Sachse ruft: „Oha!“, der Antiquar grinst, und Erwin, der sich schon die längste Zeit langweilt, tippt sich an die Stirn und verschwindet in die Kirche hinein. Unbeirrt erzählt der Angeber weiter: „Nee, Alter! Da kommt keiner ran. Wenn jemand mal kommen sollte, dann zeig ich meine eidesstattliche Erklärung und dann meine Urkunde. Fertig! Und beim Amt lieben sie mich, weil ich freiwillig arbeiten geh'. Jeden Tag vier Stunden, nachmittags. Im Blindenheim. Und wißt ihr was?“ ruft er protzend aus. „Von den vier Stunden trinke ich mindestens drei Stunden Kaffee, esse Kuchen und rauche Zigaretten. Der Rest ist nur noch Abendbrot austeilen und die ganzen alten Knacker ins Bett schmeißen. Jede Menge Wurst und Käse ist auch immer über, da kann ich mir von mitnehmen, denn schon hab ich Feierabend, den Rest machen die Schwestern. So geht das. So kommt man zu was!“ Dann begrüßt er einen Bekannten und geht mit ihm hinein. „Nä“, sagt der Sachse, „schön is das nicht, wie er mit den blinden Menschen umgeht, aber vielleicht isser gar nicht so? Aber daß er 800 für sich hat im Monat, da staune ich!“ Der Antiquar lacht ihn aus und sagt: „Du bist ein Trottel, weißt du nicht, daß es viele gibt, die 8.000 und mehr im Monat haben, nur für sich?!“ „Na wo denn, wer denn?!“ ruft der Sachse ärgerlich. Der Antiquar zieht mich zur Eingangstür: „Komm, laß uns reingehn, frühstücken, sonst ist alles besetzt“, und ruft dem Sachsen zu: „Politiker, Professoren, Leute in leitenden Funktionen...“

Am Nachmittag. Canisius, Bedürftigenausspeisung der Jesuiten.

Der Schauspieler Ulli sitzt bei Ilona, der Frau, die stets einen leeren Kinderwagen mit sich führt (seit ihr die Kinder entzogen wurden), und dem Tiroler, einem multiplesklerosekranken Mann, der im Konzentrationslager Dachau geboren wurde. Ulli erzählt mit gepflegter Stimme, die allem eine Aura des Bedeutungsvollen verleiht, von seinem Wohnheim für minderbemittelte Senioren: „Nicht, daß ihr denkt, das ist schäbig, nein! Jeder hat sein eigenes Appartement, nicht groß, aber ausreichend. Da paßt natürlich nicht jeder rein, in so ein Haus. Zum Beispiel der, von dem ich die Couch habe, der war eines Tages nicht mehr tragbar. Er hatte ja diese entsetzliche Blasenschwäche und merkte es nicht. Immer stand er in der Vorhalle, wo die Fahrstühle sind und machte den ganzen Tag die Klappen auf und zu. Der ist vor einem halben Jahr weggebracht worden, in ein Siechenheim.“ Der Tiroler, der immer ein wenig schweißgebadet ist von den Anstrengungen, stets lächelt, stets freundlich reagiert, sitzt schweigend und widmet sich seinem Teller mit Wurstbroten. Auch Ilona schweigt verbissen und schaut in eine andere Richtung. Der Schauspieler erzählt unverdrossen weiter: „Nachdem die Wohnung dann einige Monate ausgelüftet hat, zog eines Tages eine neue Bewohnerin ein, und die stellte sofort die Couch raus.“ „Die war wohl eingepinkelt?“ fragt Ilona frohlockend. „Nein!“ ruft der Schauspieler entsetzt. „Die ist makellos! Und sie paßt ganz phantastisch bei mir rein, platzmäßig und zum Stil meiner Einrichtung. Ich hatte ja an sich nie so ein Sofa, ich fand das viel zu sperring und zu spießig, aber jetzt möchte ich es nicht mehr missen, wenn ich sehe, wie es schön an der Wand steht. Ihr müßt wissen, ich habe ja meine zwei Dutzend Teddybären, die müssen auch irgendwo sitzen.“

Alle übergehen schweigend und mit unbewegten Gesichtern diese Wendung. Nach einer Pause sagt Ilona, mehr zu sich selbst: „Ich brauche auch mal dringend eine neue Wohnung, bei mir ist alles so hoch und finster, und Bad hab ich auch keins. Ich hab' zum letzten Mal gebadet vor meiner Scheidung – das ist ewig her!“ „Dafür habe ich kein Telefon“, seufzt der Schauspieler, „das heißt, einen Apparat habe ich, aber der Anschluß ist gesperrt, weil ich die Rechnung nicht bezahlen konnte. Das ist mir schon mehrmals passiert, was soll ich denn machen, ich muß ja den Kontakt aufrechthalten. Vorher haben sie mir immer eine Halbsperre verpaßt, da konnte ich wenigstens noch angerufen werden, jetzt habe ich eine vollständige Sperrung erhalten von der Telekom. Erst rauben sie uns Rentnern den 24-Stunden-Tarif für eine Einheit, und dann können wir bei Herzschlag oder Schlaganfall nicht mal Hilfe herbeirufen.“ Der Antiquar hat lächelnd Platz genommen und sich, dem durstigen Tiroler und mir Fencheltee eingeschenkt. „Für Kranke gibt's ein Telefon mit einer extra Notruftaste, das muß man beantragen“, rät der Kranke besorgt. „Das ist mir bekannt“, sagt der Schauspieler, etwas entnervt darüber, daß das Thema sich so ungünstig verfangen hat an diesem Punkt, „ich korrespondiere mit den Anwälten der Telekom.“

Ein älterer Mann nimmt neben dem Antiquar Platz. Er trägt einen Pullover mit V-Ausschnitt, darunter ein blütenweißes Hemd, mit offenem Kragen, wie es zu DDR- Zeiten üblich war. Das Haar ist dunkel, leicht wellig und kurz geschnitten, das Kinn rasiert, die Nägel sind kurz und sauber. Viele der Armen sind gepflegt und sauber, andere nicht, aber alle machen dabei den Eindruck von Privatpersonen, während man von diesem Mann den Eindruck korrekter Pflichterfüllung hat. Ihn umgibt eine Atmosphäre von Reinlichkeit und Dienstantritt. Er war bei der Nationalen Volksarmee, bei den Grenztruppen der DDR, an einem einsam gelegenen Grenzabschnitt.

Der Antiquar fragt: „Grenzorgan, wie geht's?“ Das Grenzorgan winkt ab und sagt: „Bescheiden, sehr bescheiden, muß ich leider sagen. Nur Theater, nur Rangeleien am laufenden Band. Mit der Familie, mit dem Vermieter, mit den Behörden, mit den Ärzten, und mein Rheuma, das macht mir auch zu schaffen.“ Er gießt sich Tee ein und verschenkt seinen Schokoladenkuchen an Ilona, die alles Süße heftig liebt. Auch unsere Kuchen und der eines Mannes vom Nebentisch kommen dazu, so daß sich ein Stapel auf ihrem Teller häuft. Sie wickelt geschwind alles in grüne Papierhandtücher, die aus dem Spender im WC stammen, und verstaut die Päckchen in ihrem Kinderwagen. Elisabeth erhebt sich und sagt sanft: „Grenzorgan, bitte wirf einen Blick auf meine Tasche, ab und zu, ich geh' mal für eine Weile raus.“ „Aber ja doch!“ ruft der Angesprochene. „Ich werde sie scharf im Auge behalten, du kannst dich hundertprozentig auf mich verlassen – schon deshalb, weil dieser Lederriemen von deiner Tasche genauso aussieht wie der von meiner Kalaschnikow.“ Der Antiquar schaut interessiert den Lederriemen an und sagt provozierend: „Bring doch mal Fotos mit, von früher, von dir und deiner Kalaschnikow, wir möchten dich mal sehen... so verkleidet.“ „Verkleidet ist er doch jetzt!“ sagt der Tiroler, blinzelt dem etwas verunsicherten Grenzorgan aufmunternd zu, angelt unter dem Tisch nach seiner Krücke, erhebt sich mühsam vom Stuhl und verabschiedet sich.

Der Schauspieler, der die ganze Zeit über schweigend in der Bildzeitung las, faltet sie zusammen und fragt: „Hat jemand Interesse?“, doch niemand meldet sich. „Früher,“ sagt der Schauspieler etwas indigniert, „hätte ich diese Zeitung nicht mal mit einer Zange angefaßt, aber heute ist das eine ganz normale Zeitung, sie informiert mich über Kunst, Kultur und Politik, über die Ereignisse in Berlin, über alles...“ Der Antiquar, der alles liest, was ihm in die Hände fällt, trinkt sinnend Tee, das Grenzorgan jedoch widerspricht heftig: „Das kann nicht dein Ernst sein. Das ist doch ein ganz schmutziges Meinungsblatt, ist das!“ „Das stimmte für früher, aber für heute stimmt das nicht mehr – außerdem könnte ich mir ja die Rundschau, die taz oder den Tagesspiegel gar nicht mehr leisten.“ „Na, ein bißchen rechts ist sie schon“, sagt der Antiquar stichelnd, worauf der Schauspieler in schmerzlichem Falsett ausruft: „Nein! Nein! nein! Im Gegenteil, sie bekämpfen die Rechten“; der Antiquar und das Grenzorgan lachen. Der Schauspieler setzt seine Sonnenbrille auf und bemüht sich weiterhin: „Ja wirklich, ihr hättet eben mal den Bericht über die Maikundgebung der Rechten am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig lesen sollen. Ihr habt keine Ahnung, früher haben sie gegen die Linken, gegen die Studenten gehetzt, heute tun sie das nicht mehr!“ „Weil es ja gar keine Linken mehr gibt!“ sagt der Antiquar, das Grenzorgan nickt melancholisch, und der Schauspieler, dessen Augen hinter den Brillengläsern nicht mehr zu sehen sind, entgegnet: „Eben, aber Rechte gibt es. Und die bekämpfen sie heute. Da sitzt doch eine ganz andere Generation von Redakteuren drin.“ Der Antiquar schlägt auf die zerknitterte Zeitung und sagt: „Ein Hetzblatt muß nehmen, was da ist.“ Das Grenzorgan blickt den Schauspieler mißbilligend an und fragt: „Sag mal, kannste vielleicht die Brille bald mal wieder abnehmen? Das ist ja schrecklich, immer auf das dunkle Glas zu schaun. Ansonsten hab ich zum Thema nichts mehr zu sagen. Ich will meinen roten Früchtetee hier in aller Ruhe trinken, und von Politik kann ich nichts mehr hören.“ Der ehemals Obdachlose kommt, der verschwunden gewesene Reinhold, der nun in einer therapeutischen Wohngemeinschaft wohnt und Psychopharmaka einnimmt. Er balanciert seinen Teller auf der Tasse und setzt sich neben Ilona, die liebevoll auf seinen Kuchen blickt. Kurz darauf betritt ein mittelgroßer, kräftiger Mann den Raum. Er ist etwa Mitte dreißig und hat etwas Düster-Melancholisches an sich, wirkt wie die Verkörperung eines Romanhelden aus dem vorrevolutionären Rußland. Der Antiquar begrüßt ihn erfreut: „Komm hierher Ecki, da ist noch ein Platz.“ „Das ist der Platz von Elisabeth!“ ruft das Grenzorgan aus und legt seine Hand auf die Tasche. Ein Stuhl wird vom Nebentisch herangerückt. Ecki nimmt neben mir Platz und begrüßt mich etwas verlegen: „Also die Theaterkarten, die du mir gegeben hast, die mußte ich weiterschenken, an einen Mann aus der psychosozialen Einrichtung im Horstweg, ich konnte nicht anders. Der hat mich richtiggehend bedrängt, der war so interessiert an diesem... wie hieß das?“ „Foucault- Tribunal. Ich war einmal da, dann wurde ich krank“, assistiert der Antiquar. Ecki kaut, schluckt und erzählt weiter: „Also der hat mir jedenfalls die Karten förmlich aus der Hand gerissen, ich mochte sie ihm gar nicht geben. Später hat er dann erzählt – der ist ja sonst wie ein Autist und spricht mit keinem –, daß er die ganzen Tage im Theater war und daß es stundenlang an einem Stück ging, ohne Pause, ein hochgeistiger Vortrag nach dem anderen. Also, ob ich das ausgehalten hätte, ich weiß ja nicht.“ Reinhold hebt seinen Kaffeelöffel: „Du Ecki, ich war auch dort, in der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz. Leider. Stundenlang habe ich nichts verstanden, und es war zu heiß, zu eng, zu viele Menschen waren da, und die Fenster wurden mit Vorhängeschlössern zugemacht. Ich habe die Flucht ergriffen, ich habe die Flucht ergreifen

müssen“. „Ach, hättet ihr doch lieber die Karten mir gegeben, ich wäre so gerne mal wieder ins Theater gegangen“, sagt der Schauspieler und fragt dann, sich erinnernd: „Sagt mal, die Slawistin, die Carmen, die hat mir doch vor einiger Zeit erzählt, daß sie dort mitspielen wird. Ist sie aufgetreten?“ – „Nein, sie war krank, sie hat doch Krebs!“ erklärt Ilona, „das müßt ihr doch wissen, sie hat es doch erzählt, damals, als sie vom Arzt kam!“ – „Die hat Krebs?!“ ruft der Schauspieler ungläubig aus, „kaum zu glauben, bei dem Aussehen... Und was ich auch nicht verstanden habe, was sollte sie denn überhaupt spielen?“ „Na, das war doch ein Tribunal gegen die Psychiatrie. Um die Rechte der Verrückten ging's, stimmt's? Ich hab mir das genau durchgelesen. Da sollten auch Verrückte beteiligt werden und auftreten, psychiatriegeschädigte Leute, und Carmen hat doch diese zurückgebliebene Tochter, deshalb vielleicht“, mutmaßt der Antiquar, und der Schauspieler verliert zusehends das Interesse.

Wir sind doch alle hier nicht normal!“ verkündet der Antiquar gutgelaunt. „Wir haben alle einen Hops. Einen mindestens. Ich habe sogar zwei. Ein Hops, das ist ein hirnorganisches Psychosyndrom. So erklären sich die Psychiater das abweichende Verhalten. So was ist unheilbar. Aber mancher ist froh, daß er kein normaler Spießbürger ist!“ „Ich nicht!“ entfährt es Ecki, und sein Tonfall verrät, daß er keinen Spaß macht. „Ich würde sonstwas dafür geben, wenn ich ein ganz normales, bürgerliches Leben führen könnte. Aber ich kann nicht. Ich bin asozial, durch und durch. Abseitig. Das ist die ganze bittere Wahrheit. Ich habe alles Menschenmögliche versucht, ich bin gescheitert. Ich scheitere jeden Tag.“ Er bedeckt für einen Moment das Gesicht mit den Händen und fährt dann bitter fort: „Schaut mich doch an! Ich habe mit seit einer Woche nicht gewaschen, ich bin schmutzig, ich stinke, und ich werde fett. Früher habe ich Präzisionsarbeiten verfertigt aus Metall, ich beherrschte ein Handwerk, jetzt ist es aus mit der Präzision. Aus meinem früheren Leben habe ich nur noch Stümpfe, tote Stümpfe und Rümpfe übrigbehalten. Nein, wirklich Gerhard, ich liebe das Leben, das ich führe nicht, aber ich kann daran nichts ändern. Es ist mir inzwischen ein vollständiges Rätsel, wie man das macht, leben, arbeiten, wohnen, lieben. Ich kriege nichts davon hin. Das einzige, was ich noch kann, das ist Schach spielen. Wenn ich Schach spiele, dann geht es mir gut, dann vergesse ich alles um mich herum, alles. Aber meine einzige wirkliche Lebensfreude, die ich manchmal habe, sind die Frauen. Neulich ging ich im Park hinter einer älteren Frau her und schaute die ganze Zeit auf ihre Beine. Sie hatte dicke blaugrüne Krampfadern und keine Strümpfe an. Plötzlich hatte ich so ein irrsinnig starkes Gefühl für diese Frau.“

Der Antiquar hat seine Erotomanenmiene aufgesetzt und sagt, hoch erfreut darüber, daß sein Lieblingsthema nun Gesprächsgegenstand ist: „Daß du pervers bist, Ecki, das wissen wir doch alle. Aber einen Trost hast du: Nur in der Perversion schlummert die Freiheit... ich komme jetzt nicht drauf, von wem das ist.“ Ecki ist wenig animiert: „Egal, von wem auch immer! Die Krampfadern dieser Frau jedenfalls, die haben mich glücklich gemacht. Es war plötzlich wie ein Ausdruck des Lebens, es waren Spuren des Lebens...“ Der Antiquar sagt mit Satyrlächeln: „Neulich hatte er sogar Telefonsex mit einer Fünfundsiebzigjährigen!“ – „So was gibt's?“ wundert sich Ilona, und Ecki erklärt gereizt: „Mich langweilt das Glatte, die Zwangsjugendlichkeit. Es ist doch verpönt, daß sich die schwierigen Lebensverhältnisse und das Alter eingraben und ausdrücken im Körper. Ich bin da ganz anders, ich liebe das geradezu, besonders an den Frauen, ihre Falten, die Bindegewebsschwäche, Narben oder Krampfadern. Das ist für mich ein Ausdruck von Leben, von Schicksal, und ich erfreue mich daran, daß sie den Lebensmut nicht verlieren und sogar heiter sind. Ich verliebe mich in solche Frauen, oder ich würde mich gern verlieben... Jedenfalls immer noch besser, pervers zu sein, als das zu haben, was der Heinz hat, ,Einstein', meine ich. Der hat diese destruktive Lebensfeindlichkeit. Ich spazierte mit ihm mal Unter den Linden, und da überkam ihn das Bedürfnis, sagte er, die ganzen Paläste in die Luft zu sprengen dort. Aber nicht den Palast der Republik meinte er, er meinte beispielsweise den Dom. Den haßte er geradezu, er sagte irgendwas von Königen und Hohenzollern. Ich sagte ihm, hör mal, ich bin Schachspieler und wer Schach spielt, der muß den König lieben, insofern bin ich Monarchist. Aber der hörte gar nichts, sagte nur eins: Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Man muß sie alle in die Luft sprengen. Also ich finde das abartig, diesen Haß. Darf man Kulturdenkmäler in die Luft sprengen? Ich finde nicht.“

Der Antiquar stößt erregt hervor: „Bei den französischen Frühsozialisten sollte jeder sein eigenes Schloß besitzen. Was sagst du dazu?“ Ecki zuckt, scheiternd vor diesem Schwenk, resigniert mit den Schultern. „Das ist doch Idiotismus, so was!“ ruft das Grenzorgan streng, tippt sich an die Stirn, schenkt roten Früchtetee nach und blickt versonnen auf den Lederriemen an Elisabeths Tasche.