Was wußte Merkel wirklich?

■ Theoretisch war das Umweltministerium über die Castor-Kontaminationen schon länger informiert

Hannover (taz) – „Das Problem möglicher Kontaminationen bei Brennelementtransporten ist wissenschaftlich behandelt worden und als solches bekannt“, ließ Bundesumweltministerin Angela Merkel gestern mitteilen. Von tatsächlichen Grenzwertüberschreitungen habe man jedoch erst am 22. April erfahren, betonte ihre Sprecherin Gertrud Sahler gestern erneut. Es gebe einen Unterschied zwischen der theoretischen Erörterung eines Problems in wissenschaftlichen Publikationen oder in Gerichtsverfahren und tatsächlichen Meßwerten, sagte Sahler.

Vor dem halbherzigen Eingeständnis des Bundesumweltministeriums hatten die Bürgerinitiative „Kein Atommüll in Ahaus“ und einer ihrer Gutachter, der Gießener Verfahrenstechniker Professor Elmar Schlich, öffentlich daran erinnert, daß die Gefahr der kontaminierten Castor-Behälter im Genehmigungsverfahren für das Zwischenlager Ahaus breit behandelt worden ist. „Wir haben mehrmals darauf hingewiesen, daß kontaminierte Feuchtigkeit und auch radioaktive Partikel an Castor-Behältern zurückbleiben, wenn diese unter Wasser im Abklingbecken von Kernkraftwerken beladen wurden“, sagte der BI- Sprecher Hartmut Liebermann gestern. Eine gänzliches Trocknen und eine vollständige Außenreinigung der Behälter seien nicht möglich.

Dies habe die BI im Genehmigungsverfahren in Schriftsätzen und gutachterlichen Stellungnahmen sowie in zwei Verhandlungen vor dem Oberverwaltungsgericht Münster dargelegt. Bei den Erörterungsterminen und Gerichtsverfahren seien stets auch Vertreter des Bundesamtes für Strahlenschutz und des Bundesumweltministeriums dabeigewesen.

Hierzu erklärte die Sprecherin des Umweltministeriums, Gertrud Sahler, gestern, weder das Bundesamt für Strahlenschutz noch das Bundesumweltministerium seien anschließend den vor Gericht aufgeworfenen Fragestellungen weiter nachgegangen. Wie weit der Kenntnisstand der einzelner Mitarbeiter des Umweltministeriums tatsächlich ging, sollen diese ihrer Chefin jetzt in dienstlichen Erklärungen darlegen.

Nach Angaben des BI-Sprechers haben in dem Gerichtsverfahren für die erweiterte Ahaus- Genehmigung die AKW-Betreiber in Gestalt ihres Tochterunternehmens GNS ausdrücklich in Abrede gestellt, daß es durch Außenkontaminationen an Castor-Behältern zu Grenzwertüberschreitungen kommen könne. Da die Betreiber schon seit Mitte der achtziger Jahre über unzulässige Kontaminationen informiert seien, stelle sich die Frage eines strafbaren Prozeßbetruges, sagte BI-Sprecher Liebermann. Strafanzeige gegen AKW-Betreiber, die Deutsche Bahn AG, die GNS und das Bundesamt für Strahlenschutz wegen der Grenzwertüberschreitung bei Castor-Transporten hat inzwischen auch die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg erstattet. Es bestehe der Verdacht, daß Mitarbeiter dieser Unternehmen oder Behörden sich der fahrlässigen Freisetzung ionisierender Strahlen schuldig gemacht hätten. Jürgen Voges