Überleben unter Totenmännern

■ Der Nazi-Euthanasie ist sie haarscharf entkommen. Morgen liest Elvira Manthey im ZKH-Ost

Guter Brauch ist es heutzutage, über kausales Denken zu lästern: Seit Newton würde es unseren Alltag terrorisieren. Alles sei durchrationalisiert, überall stünden Sinn und Zweck obenan. Wo leben die Leute, die solchen Unsinn behaupten? Elvira Manthey jedenfalls wäre eine ganze Menge Horror erspart geblieben, hätte ihre Umgebung ein winziges bißchen nachgedacht über Ursache und Wirkung – zum Beispiel im Verhalten von Kindern.

Noch nicht ganz fünf Jahre alt wurde sie ihrer armen, ungebildeten, chaotischen, aber eigentlich ganz erträglichen Familie entrissen. Natürlich gewaltsam. Und wurde natürlich Bettnässerin. Und wurde natürlich dafür bestraft. Statt mit Vogelzwitschern begann jeder Morgen mit einer saftigen Backpfeife. Ein winziges Mädchen war es, das die Laken eigenhändig waschen mußte, – das sich nicht von der Stelle bewegen durfte, bis die Laken trocken waren – und wenn es Stunden dauerte. Keiner scherte sich darum, welche Auswirkungen solche Foltermaßnahmen haben. Kausales Denken – Fehlanzeige. Die gefühlslose Erziehungsmaschinerie produzierte just jene Eigenschaften, die sie zu bekämpfen vorgab: Ängstlichkeit, Wortkargheit, Bettnässen. „Angst vor Strafe war mein ständiger Begleiter. Ich hatte sogar Angst, abends einzuschlafen.“ Elviras Schwester bezahlte die erzieherische Spezialbehandlung mit dem Leben. Als „Verhaltensgestörte“ wurde sie von den Nazis vergast. Elvira dagegen durfte ein paar Schritte vor der eisernen Tür zur Gaskammer umkehren. Nicht immer hielt sie es für ein Glück im Unglück. Denn auch ihr Preis war hoch: ein lebenslanges Schuldgefühl wegen des Todes der Schwester, Scham wegen der fehlenden Schulbildung – und Wut.

Letztere half ihr, Schuld und Scham zu überwinden. 1993 publizierte Elvira Manthey, geborene Hempel zusammen mit ihrem Mann im Selbstverlag ihre Odyssee durch Deutschlands „Erziehungs“-Anstalten.

Die unendliche Abfolge von Bettnässen, Ohrfeigen und der Höllenangst vor dem nächsten feuchten Morgen ist in nüchternem Stackato Hemingwayscher Kürzestsätz niedergeschrieben. „Wir mußten raus aus dem Haus. Für Miete war kein Geld da. Hempels wurden obdachlos.“ Viel mehr als nur ästhetisches Mittel ist hier die prägnante Syntax, nämlich eine Art Überlebenstraining, ein Ringen um Sachlichkeit. Nicht mit psychoanalytischen Gedöhns, sondern mit dem knappen Vokabular, das die Alltagssprache für Psychisches bereitstellt, dringt die Autorin vor zu Momenten kurz vor dem Totalabsturz. „Ich zittere so stark, daß ich nicht mehr richtig laufen kann. Wenn ich nicht weine, dann stiere ich nur vor mich hin.“ Keine unberechtigten Gefühle. Schließlich ging ein „Totenmann“ um, und stach Alte und Kinder mit seiner Spritze ab.

Elvira Manthey zeigt, zumindest in Maßen, auch die eigenen Beschädigungen. Auf Gewalt reagierte sie nicht nur mit Trotz und Zähigkeit, sondern auch mit Neid und Gewalt gegen die Schwestern. Noch heute kämpft sie darum, mit dem ganzen Unrecht fertigzuwerden. Und zwar durch dessen Anerkennung durch die Täter bzw. deren Rechtsnachfolger. „Ich will, daß dieses Land, dieses Deutschland zu mir sagt: ,Wir haben dir großes Unrecht angetan. Komm zu uns, bleib bei uns, du bist ein Mensch wie wir.' Warum kann mir das niemand sagen?“ Äußeres Zeichen für ein staatliches Schuldbekenntnis wäre für Elvira das Verfügungsrecht über die eigene Krankenakte. Nach unendlichem Behördenheckmeck darf sie immerhin ihren Namen schwärzen. Wie bei allen anderen Naziopfern beweisen Büromenschen eine unerfreuliche Ignoranz gegenüber dem Erlösungsbedürfnis geschundener Menschen. Irgendwie zum Kotzen. bk

27.5. 20h Zentralkrankenhaus -Ost, Haus im Park: Lesung. 30.5., 15-18h im Krankenhausmuseum: Treffen des „Gedenkkreis für die Opfer der NS-Psychatrie“