Vorhang auf, und alle singen mit

Was vom Theatertreffen übrigblieb: Ein neuer Konsens erfaßt Marthaler, Schleef und Schlingensief. Das Genre der Zeit ist das fortgesetzt euphorische Finale. Das Publikum bildet dabei eine Solidargemeinschaft, und wer nicht ins Boot paßt, muß trotzdem mit  ■ Von Petra Kohse

Natürlich stimmt es nicht, daß das Berliner Theaterpublikum besonders kritisch wäre. Im Gegenteil macht es im allgemeinen so wenig Unterschiede, daß man es hier schon für einen „Theaterskandal“ hält, wenn sich einmal ein einzelner entschlossener Buhrufer Gehör verschafft. Denn Einverständnis ist Ehrensache, seit es für Kultur weniger Geld gibt als vorher. Gleichwohl hält sich das Gerücht des schwer einzunehmenden Berliner Publikums und ist während des Theatertreffens eines der beliebtesten Pausenthemen. Und das, obwohl natürlich jeder weiß, daß zumindest in den Premieren vor allem Funktionäre, Kritiker und Auswärtige sitzen. Die sich aber natürlich kaum anders verhalten als die sogenannten Berliner.

Doch auch wenn Theaterpublikum neuerdings als Solidargemeinschaft daherkommt, wünscht sich nach wie vor jeder, die Kunst möge kurz sein und dekorativ. So gesehen, war die Entscheidung, das diesjährige Theatertreffen mit „The Unanswered Question“ beginnen zu lassen, nachgerade tollkühn. Denn obwohl der Festivalleiter Torsten Maß gerne betont, wie erfolgreich der mehrstündige Auftakt mit Horváths „Kasimir und Karoline“ unter der Regie von Christoph Marthaler im letzten Jahr gewesen war, handelt es sich bei der Basler Musiktheaterproduktion von Marthaler und Jürg Henneberger um eine ungleich vertracktere Angelegenheit.

Im ersten Teil eine charmante Parodie auf den Betrieb von Klassik Radio und anverwandten Stationen, verläßt Marthaler im zweiten den sicheren Boden lästernder Witzischkeit und zieht die Konsequenz aus seinem Thema: Statt immer kürzerer E-Musik-Häppchen – ergeben dargeboten etwa von den „Drei Bässen“ in zu engen Anzügen – hört man plötzlich neue Musik, Charles Ives und György Kurtág, gesungen von Rosemary Hardy.

Erschrocken begann das festlich gestimmte Schauspielpublikum in kleineren und größeren Gruppen diskret seinen Rückzug zu organisieren und brachte sich damit um das – zugegeben eher protestantische – Vergnügen, in gelichteten Reihen dämmernd zu bemerken, bei den Digestnummern im ersten Teil nicht deswegen gelacht zu haben, weil sie so lächerlich sind, sondern weil sie gerade bei mangelnder musikalischer Bildung so hervorragend funktionieren.

Neue Lust an der Umarmung

„Die unbeantwortete Frage“ also ist eine völlig unkuschelige, fast aggressive Arbeit Marthalers, mit der es ihm aber trotzdem nicht gelingen wird, sich Feinde zu machen. Denn die neue Lust an der Eingemeindung und Umarmung ist nicht zuletzt deswegen so durchgreifend, weil sie auch eine Art geistig-kultureller Mobilmachung in eigener Sache ist: Schließlich ist Wirtschaftskrise, und keiner will hin.

Die bevorstehende Verleihung des diesjährigen Büchnerpreises an die Schriftstellerin Elfriede Jelinek ist dafür ein schönes Beispiel. Niemand entgeht jetzt der Liebe des Betriebs, und je zorniger eine schreibt, desto besser. Auch der Regisseur Einar Schleef könnte dieser Tage seins dazu erzählen. Letztes Jahr noch echauffierte sich die Theaterkritikerin und Festivalmacherin Renate Klett über die „Wehrsportgruppe Schleef“, dieses Jahr stand sie mit der restlichen Theatertreffenjury für gleich zwei Einladungen von Schleef-Produktionen nach Berlin gerade, denn in diesen Zeiten muß jeder mit ins Boot. Ihre Kollegin Sigrid Löffler setzte der Sache zuliebe sogar ihre journalistische Integrität aufs Spiel. Bekanntermaßen keine Schleef-Verehrerin, hatte sie dennoch eine Laudatio auf Schleef verfaßt, der den diesjährigen 3sat- Preis während des Theatertreffens erhielt.

Diesen Redejob zu ergattern muß eine Sache von höchster Bedeutung sein. Letztes Jahr arbeitete sich Gerhard Jörder mit mitleiderregend tropfender Nase durch seinen Text, und Löffler sprach jetzt ungerührt früherer Überzeugungen. „Wie soll ich das ertragen, hören Sie auf!“ rief ihr Schleef denn zwar dazwischen und fragte sogar: „Lesen Sie eigentlich Ihre eigenen Kritiken?“ Aber so amüsant und ehrenhaft dies war, es war natürlich vergeblich. Die Lobrede rollte weiter, und Schleef nahm den Preis am Ende an. Wer hätte auch nicht – schließlich handelt es sich um zwanzigtausend Mark, und als Theaterkünstler zu zeigen, daß man auf Geld verzichten kann, würde heutzutage als mindestens ebenso unmoralisch gelten wie Zweifel an der Übereinkunft anzumelden, daß es eine gemeinsame Sache gibt.

Tatsächlich muß einer nur mit dem entsprechend integrativen Impetus auftreten, um von allen alles zu bekommen. Es wundert nicht, daß Peter Steins lange geplantes, millionenschweres Repräsentationsprojekt, beide Teile von Goethes „Faust“ ungekürzt aufführen zu lassen, ausgerechnet jetzt seiner Verwirklichung entgegenschreitet. Als Jahrtausendwerk zur Weltausstellung in Hannover, und zwar unter der Beteiligung und Mobilisierung von Kulturschaffenden aller Schichten.

Solidargroschen sogar für die ganz oben

„Das Ensemble des TanzTheaters im Hof überlegt, ob es noch ein paar Benefizveranstaltungen durchführt, um die Endfinanzierung des Faust zu sichern“, wurde die Leiterin dieses Emsembles, Britta Hoge, in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Mitte Mai nach der Bekanntgabe des Kulturprogramms zur Expo 2000 zitiert. Echte und aufrechte Solidarität von unten mit der Kunst eines Mannes, von dem es heißt, er habe sich kürzlich in Italien ein größeres Stück Land gekauft, ein Dorf gar, ein verlassenes. Wer stützt sich hier auf wen?

„Ich möcht' ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist“, sagt Kaspar in Peter Handkes Stück, als er lernt zu sprechen. Ich möcht' ein solcher sein wie gerade alle anderen sind – was vor dreißig Jahren noch als Inbegriff anzuklagenden Anpaßlertums gegolten haben mag, ist in der wirtschaftlichen Zuspitzung mittlerweile konsensfähig. Wobei sich unvermittelte Affirmation mit subversiv gemeinter Affirmation so mischt, daß sich beide nicht nur zum Verwechseln ähnlich sehen, sondern sich auch identisch anfühlen.

Selbst Christoph Schlingensief weiß schließlich, daß einer, um zu beweisen, daß er existiert, die anderen dringend braucht (möglichst viele). Im Dutzend billiger nimmt er sich Vorbilder – Beuys, Dutschke, Kohl –, und versucht als „König der Herzen“, deren Quersumme zu bilden. Bei jeder Gelegenheit im paßgenauen Schwarm zu schwimmen, ist die Kunst der Stunde, das einsame Kreisen im Ego- Orbit ist vorbei. Vorhang auf, und alle singen mit.

Tatsächlich wirkt konventionelles Anguck-Virtuosentum wie von Gert Voss und Ignaz Kirchner in Becketts „Endspiel“ aus Wien inzwischen gefahrlos und kalt. Der Jubel am Ende war dennoch gewiß, und als der Regisseur George Tabori auch nach der vierten Vorstellung beim Theatertreffen auf die Bühne kam, riß es die Leute von den Plätzen.

Das ist bei der alljährlich letzten Inszenierung des mittlerweile 83jährigen Künstlers immer so. Das nächste Ereignis steht auch schon ins Haus, im August wird Tabori jetzt bei einem Opernspektakel in Berlin Regie führen. Unter dem Motto „Zirkus um Zauberflöte“ hinter dem Tacheles, mit Ziegen und Affen im Zelt des Circus Roncalli.

Das fortgesetzt euphorische Finale scheint das Genre der Zeit zu sein, auf Tabori wird es projiziert, Marthaler ironisiert es, Schlingensief bedient es, sogar Schleefs Ästhetik läßt sich hier scheinbar integrieren. Schleef aber ist es ernst mit der Form und fährt Fulminanz nur auf, um sie am Ende in eine Strenge der Dauer und Wiederholung zu überführen: Was Fest war, wird Ritual. Wohl deswegen läßt er sich als einer der wenigen auch nicht umarmen. „Fremd bin ich eingezogen / fremd zieh' ich wieder aus. / Der Mai war mir gewogen / mit manchem Blumenstrauß“, läßt er sein Ensemble mit vier Versen aus Schuberts/Müllers „Winterreise“ den Premierenjubel beantworten.

Einer reist immer allein

Nicht gesungen werden die vier Verse der folgenden Strophe, die gleichwohl als Paraphrase auf Einar Schleefs künstlerisches Selbstverständnis gelten können: „Ich kann zu meinen Reisen / nicht wählen mir die Zeit, / Muß selbst den Weg mir weisen, / In dieser Dunkelheit.“ Gerade im Augenblick der Eingemeindung das Wesentliche zu verschweigen macht wahrscheinlich den Anachronisten aus.