"Alles ist möglich"

■ American Pie: Die Indiana Pacers gleichen die NBA-Halbfinalserie gegen die Titelverteidiger von den Chicago Bulls zum 2:2 aus

Do you recall, what was revealed

Berlin (taz) – Erstmals stand am Montag nach einem Spiel der Chicago Bulls nicht die Frage im Vordergrund, wie es mit dem Team und vor allem seinem Star Michael Jordan nach erfolgreicher Titelverteidigung wohl weitergehen würde. Die Frage hieß vielmehr, ob der Champion überhaupt das Finale gegen die Utah Jazz, die am Sonntag die Los Angeles Lakers ausgeschaltet hatten, erreichen würde. Zum zweitenmal innerhalb von zwei Tagen zogen die Bulls in der Market Square Arena von Indianapolis den kürzeren gegen die Indiana Pacers, weil sie es in der Schlußphase nicht schafften, den überragenden Pacers-Werfer Reggie Miller zu kontrollieren. Trotz einer Knöchelverletzung, die ihn schon in Spiel 3 behindert hatte, erhumpelte sich Miller 26 Punkte, die letzten durch einen Dreipunktewurf 0,7 Sekunden vor Ende zum 96:94-Endstand, nachdem Scottie Pippen kurz zuvor zwei Freiwürfe für Chicago vergeben hatte. Damit heißt es in der Halbfinalserie des Ostens (Best of seven) 2:2.

„Sie müssen sich immer noch in Chicago durchsetzen“, verwies Michael Jordan, mit 28 Punkten Topscorer seines Teams, auf den Heimvorteil der Bulls. Das fünfte Match findet heute in Chicago statt, und auch ein eventuelles siebtes Spiel würde im United Center absolviert. „Wir müssen immer noch ein Match in Chicago gewinnen“, weiß auch Indiana-Coach Larry Bird, der Millers entscheidendem Dreier mit gewohnter Gelassenheit registrierte. „Der Spielzug war genauso geplant“, erläuterte Bird, „allerdings dachte ich nicht, daß Reggie so frei sein würde.“ Ein kleiner Seitenhieb gegen Millers Bewacher Jordan, aber auch gegen Coach Phil Jackson, der sich nach den ersten Partien in Chicago noch über den Kollegen lustig gemacht hatte, weil sich dieser heftig über die Schiedsrichter beklagte. Am Montag war es Jackson, der ausgiebig auf die Referees schimpfte und vor allem ungehalten darüber war, daß Miller kurz vor seinem siegbringenden Wurf bei einer Rangelei mit Ron Harper kein technisches Foul bekommen hatte. Noch dramatischer als sein Coach äußerte sich Michael Jordan, der nicht gerade seinen Glückstag erwischt hatte. Im ersten Viertel holte er sich bei einem Block von Rik Smits eine blutigen Riß über dem Auge, ihm unterliefen sechs Ballverluste, im letzten Viertel warf er bloß vier Punkte, mit der Schlußsirene prallte sein Wurf aus gut acht Metern am Korbrand ab, und als sich Miller für seinen letzten Coup in Position brachte, schob er den berühmten Kontrahenten einfach beiseite. „Es sieht so aus, als stünde die ganze Welt gegen uns, und das schließt auch die Schiedsrichter ein“, zeterte ein genervter Jordan. „Ach, er hat ihn geschubst? Dann wundere ich mich aber, daß ihn die Referees nicht bestraft haben“, konterte mit gewisser Scheinheiligkeit Larry Bird.

Auch wenn sein Team doch noch ausscheiden sollte, kann der Debütant im Traineramt auf eine höchst erfolgreiche Saison zurückblicken. Während Phil Jackson nur Siebter wurde, gewann Larry Bird überlegen die Wahl zum NBA- Coach des Jahres, nachdem er den Trümmerhaufen, den Larry Brown in Indianapolis zurückgelassen hatte, im Handumdrehen wieder in ein Spitzenteam verwandelt hatte. Dabei profitierte der legendäre Spieler der Boston Celtics zum einen vom Lichtgestalt-Effekt – selbst ein Reggie Miller, der sonst vor nichts Respekt hat, hört auf ihn –, zum anderen schaffte er es, aus seinen Spielern das Optimale herauszuholen. Miller, Mark Jackson, Chris Mullin und Rik Smits spielten eine starke Saison, aber auch Bankspieler wie Travis Best, Antonio Davis oder Jalen Rose, der seit seinen großen College-Zeiten bei Michigans „Fab Five“ um Chris Webber und Juwan Howard auf den Durchbruch wartet, waren viel effektiver als früher.

Dennoch ist es natürlich nicht wahr, daß alle Welt den Bulls die Niederlage wünscht. Im Gegenteil: Alle Welt möchte sehen, wie Michael Jordan im Finale noch einmal Karl Malone und seinen Kollegen aus Utah das Fell über die Ohren zieht. Schließlich kann es ja sein, daß er tatsächlich aufhört. Auf der anderen Seite könnte gerade ein Ausscheiden der Bulls gegen Indiana diesen Abschied verhindern, denn niemand kann sich vorstellen, daß der beste Basketballspieler aller Zeiten mit einer Niederlage abtritt. Jordan selbst scheint einer Fortsetzung seiner Karriere, wo auch immer, zusehends aufgeschlossener gegenüberzustehen. „Alles ist möglich“, lautet seine letzte Aussage zum Thema. Matti Lieske