Resteessen in Ruinen

Ob Fußmassage, Kochaktion oder Restauranteinrichtung: Immer häufiger versuchen sich Künstler auch als Dienstleister. Dabei entpuppt sich der neue Trend zum konzeptuellen Partyservice als ein unverdautes Überbleibsel der subkulturellen achtziger Jahre  ■ Von Wolfgang Müller

Immer mehr Künstler verweigern heute die Herstellung von Bildern und Objekten, weiß die Kunstzeitschrift art in ihrer Mai-Ausgabe. Der neuste Trend in der Kunstlandschaft soll – frisch aus den USA importiert – den modebewußten Lesern schmackhaft gemacht werden. Verweigerung klingt immer gut, paßt das doch in das Bild des hellwachen Künstlers, der zwar das Gras wachsen hört, aber nicht daran denkt, es kommerziell auszuschlachten, indem er eine CD mit graswachsenden Tondokumenten veröffentlicht. Er verzichtet freiwillig auf den großen Sommerhit! Egal – der neuste Verweigerungstrend nennt sich jedenfalls „Kunst als Dienstleistung“.

In der Servicewüste Deutschland wird er überaus freudig aufgenommen und gilt als weiteres Indiz für den lange erwarteten Umschwung: Die Dienstleistungsgesellschaft kommt doch noch, vorerst im Kunstbereich. In den Privatgalerien glühen rote Lämpchen auf, und die Nadeln der Seismographen in den Kunsthallen zittern erregt. Jetzt alle aufgepaßt!

Der neuste Trend besteht grob gesagt darin, daß die vorgestellte Künstlerriege für Ausstellungsbesucher kocht, schmutzige Galerieböden putzt, sozial Schwache einkleidet, Stühle zum Sitzen feilbietet, ja gar die Füße erschöpfter Besucher massiert. Sozialarbeit als Geste und das Soziale als Material. Da der Zusammenhalt der von art und eifrigen Kunstmanagern Eingekreisten eher lauwarmer Natur ist, wird wohlweislich das Wort „Künstlerriege“ verwendet. Die Konstruktion aus alten und neuen Gesichtern Künstlergruppe zu nennen ginge nämlich wirklich zu weit. „Die Wiener Künstlerschwestern Hohenbüchler fühlen sich im Atelier oft isoliert“, schreibt art-Autor Alfred Nemeczek, „und suchen durch Gruppenarbeit in Heimen frischen Kontakt zur Realität.“ Sehr rührig. Tatsächlich bastelt das Schwesternpaar mit geistig Behinderten lustige Badeanzüge, die dann in Galerien und Kunsthallen landen.

Auch ein von Damien Hirst ausgestattetes Restaurant namens „Pharmacy“ wird in den neuen Trend integriert. Eigentlich ist das Ganze nichts weiter als ein gewöhnliches Restaurant, in dem die Angestellten mit designten Krankenhausuniformen herumlaufen müssen. Sie machen das mit gewiß so überzeugten Mienen wie die Angestellten bei McDonald's, die in Fortbildungskursen lernen, stolz zu ihren roten Schirmmützen zu stehen. An den Wänden hängen verschlossene Arzneischränke, die mit allerlei Medikamenten gefüllt sind. Eigentlich sind es simple Kunstobjekte eines Künstlers. An ihrer Stelle hätten also auch Gemälde oder Fotografien von einer Arztpraxis hängen können. Die Cocktails wiederum heißen Penicillin oder Kochsalzinfusion – und das war's dann auch. Auf der Speisekarte werden Gäste jedenfalls vergebens eine Mahlzeit namens „entferntes Krebsgeschwür“ oder „gesottene Blinddarmvereiterung“ suchen.

Schon vor Jahren gab es solche Bars oder Restaurants, wie sie jetzt als Kunstwerk von Künstlern verkauft werden: Anfang der 80er Jahre servierten in einer Westberliner Kneipe namens „Rotes Kreuz“ die Angestellten in der Berufskleidung von Krankenschwestern und Pflegern die Drinks. Die New Yorker Diskothek „Area“ verwandelte sich 1984 für zwei Wochen in eine psychotherapeutische Praxis. Transvestiten im Krankenschwesterdress notierten in kleinen Separées die Sorgen depressiver Besucher, während durchgeknallte „Patienten“ in vergitterten Mehrstockbetten randalierten.

Als ausgesprochen geschmacklos und politisch inkorrekt würde diese Variante der Diskothekendekoration mit dem Sozialen als Material heute möglicherweise gelten. Sozialarbeit als künstlerische Geste hingegen ist garantiert geschmacksfrei und völlig risikolos. Harmlos nett klingt es, wenn Kellner Marvin aus dem „Pharmacy“ der Süddeutschen Zeitung von überraschten Besuchern erzählt, die mit Arztrezept in der Hand das Restaurant betreten. Darauf einen Drink!

Auch die Berliner Kneipe „Kumpelnest 3000“ ist vor über zehn Jahren schon aus einem künstlerischen Konzept entstanden. Der Kunststudent Mark Ernestus übernahm 1987 das ehemalige Bordell „Club Maitresse“, änderte nichts an Dekoration und Mobiliar und meldete das Projekt als „Kumpelnest 3000“ für die Abschlußprüfung an. Sein Professor, der Filmemacher Wolfgang Ramsbott, besichtigte das Readymade, gab dem Studenten eine gute Note: Prüfung bestanden – in der Kunstwelt blieb der Akt nahezu unbemerkt.

Die spannenden 80er Jahre, wie sie in der Kunstwelt keiner haben wollte. Dort präferierten Kuratoren, Ausstellungsmacher und Kunstzeitschriften seinerzeit heftige Malerei oder Mülheimer Freiheit. In Westberlin galt der Kritische Realismus in 3-D-Ausführung, so wie ihn Olaf Metzel mit seinem Turm aus Absperrgittern und Einkaufswagen obendrauf ausführte, als besonders revolutionär.

Jetzt tauchen die längst gelebten und verdrängten Zeiten als gekünsteltes Zitat auf. Motto: Hallo, hallo, hier tobt das Leben! Besondere Realitätsferne beweist denn auch die Dienstleistungskünstlerin Marie- Ange Guilleminot, die in Kaspar Königs Skulpturenausstellung in Münster letzten Sommer einen Paravent mit ausgesägten Löchern installierte. Fußlahme Passanten konnten sich davor hinsetzen, ihre Füße durchstecken und erhielten eine sanfte, anonyme Fußmassage. In der Schwulenszene werden ähnliche Spiele als anonymer Sex auf öffentlichen Toiletten bezeichnet. Allerdings fährt da natürlich nicht der Fuß, sondern das Genital durch ein Loch in der Kabinenwand. Die Künstlerin zu ihrem Werk: „Was mich an dem Wandschirm so fasziniert, ist die Möglichkeit, jemanden auf eine Art zu berühren, die noch nie ausprobiert worden ist.“ So viel Sensibilität können sich heute nur noch Künstler und abgedriftete Esoteriker leisten. Der Brustkasten mit Vorhang, den sich Valie Export in den frühen 70er Jahren vor die Brust schraubte – Zugriff möglich, mit allen Konsequenzen –, kommt da doch wesentlich überzeugender.

Und was ist mit Daniel Spoerri, der in den 60er Jahren das Publikum bekochte? Gilt der jetzt etwa als Urgroßvater der neuen Bewegung? Keinesfalls. „Die Künstler agierten damals oft so nackt und radikal, daß die geschockten Bürger ihr Mitspiel verweigerten“, weiß der art-Autor, der Spoerris „Eat-Art“ spitzfindig als „folgenlosen Medienhit“ bezeichnet. Die Qualität der neuen Servierkunst bestünde ja gerade darin, daß das Publikum heute die vom Künstler geschmorten Crevetten essen würde – und nicht wie zu Spoerris Zeiten die Gerichte als Kunstwerk betrachte und deshalb respektvoll verschmähe. So ein Quatsch! Das von Spoerri kreierte Spezialitätenrestaurant in Düsseldorf war Gourmettempel, Kunstwerk und Materiallager in einem. Niemand hat und hätte da wohl Hemmungen gehabt, sich zu bedienen.

Wenn sich also die aktuelle Kunst dem Niveau des Unterhaltungsfernsehens annähert, verschwimmen tatsächlich alle Grenzen. Gut, daß es Theoretiker und Kunstkritiker gibt, die nun schon seit Mitte der 80er Jahre emsig damit beschäftigt sind, hohle Gefäße, sprich: inhaltsarme Kunstwerke, durch komplizierte Diskurse im geschlossenen Kreis zu geistreichen Kreationen aufzupäppeln. Im Einverständnis mit den ursprünglichen Schöpfern, die zwar immer noch irgendwie Künstler bleiben möchten, aber doch längst widerstandslos aufgegeben haben.

Zu den beliebtesten Objekten der neuen Dienstleistungskunst gehört denn auch die Bartheke – auffällig häufig von Künstlern männlichen Geschlechts montiert. So plazierte Tobias Rehberger eine Biertheke vor die Universität in Münster und entrollte davor einen großen roten Teppich, auf dem sich die Besucher entspannen konnten. Kunst, die sich in der Kunst bewegt und behauptet, aus dem Leben zu schöpfen, hätte den roten Teppich dabei gar nicht nötig gehabt. So könnte auch Bazon Brock, der wenige Jahre nach dem Kauf ein Gemälde von Peter Bömmels (Mülheimer Freiheit) enttäuscht zum Einkaufspreis anbot – ein Tabu auf dem Kunstmarkt, der nur steigende Preise kennt –, das unverkaufte Werk heute aus seinem Rahmen lösen und als flauschige Liegewiese anbieten. Vielleicht lädt es sich als Teppich im Zuge des neuen Trends wieder etwas auf. Damit stünde es außerdem in direkter Verbindung des bei den Dienstleistungskünstlern und ihren Mentoren heftigst bemühten Marcel Duchamp, der vor 80 Jahren den Gedanken äußerte, ob man nicht die Mona Lisa als Bügelbrett benutzen könne.

Vielleicht könnten im Zuge der neuen Strömung auch Ausstellungsmacher zu Möbelverkäufern umgeschult werden, Künstler eine Festanstellung als Sozialpädagogen im Skinmilieu erhalten und die art zur Kundenzeitschrift der Bäckerinnung umfunktioniert werden: Die Bäckerblume backt ab sofort ganz große Brötchen.