Kinder marschieren für ihre Rechte

Ein Demonstrationszug von Tausenden von Kindern zieht seit Januar um den Globus nach Genf, wo nächste Woche neues Abkommen gegen Kinderarbeit beraten wird  ■ Von Joseph P. Dreier

Die neunjährige Jasmin aus München hat ein anstrengendes Wochen-Programm: Täglich Schule von acht bis zwölf Uhr, danach Hausaufgaben, montags Ballettstunde, dienstags Chorsingen, mittwochs Blockflöte, donnerstags Töpfern und freitags Einladung zum Kindergeburtstag. Tara aus Nepal, zehn Jahre alt, würde sie darum beneiden. Ihr Tag beginnt bei Sonnenaufgang mit Wasserholen, dem Füttern der Tiere und dem Schneiden von neuem Futter. Nach dem Essen folgen sechs Stunden Arbeit in den Reisfeldern. Abends vor dem Schlafengehen muß sie noch einmal die Tiere füttern und wieder Wasser holen.

250 Millionen ihrer Altersgenossinnen in aller Welt zwischen fünf und 14 Jahren müssen nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf oft unter unwürdigen oder gesundheitsschädlichen Bedingungen täglich bis zu zwölf Stunden an mindestens sechs Tagen in der Woche für Hungerlöhne arbeiten. Sie knüpfen Teppiche, arbeiten in Bergwerken und auf Plantagen oder nähen Fußbälle für ihre Altersgenossen in den Industrieländern. Im schlimmsten Falle werden sie zur Prostitution oder zum Drogenhandel gezwungen, als Haussklaven gehalten oder als Kindersoldaten mißbraucht.

Die Weltöffentlichkeit endlich für Kinderrechte zu mobilisieren, ist Ziel des weltweiten Marschs gegen Kinderarbeit, der in dieser Woche durch Deutschland zieht. Vorgestern in Bonn, werden die 3.000 Schüler und Jugendlichen aus aller Welt übermorgen in Freiburg eintreffen. Im Januar begann die Kampagne in Manila, der Hauptstadt der Philippinen, und führt seither durch 95 Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa. Eine Koalition von mehr als 700 regierungsunabhängigen Organisationen aus aller Welt unterstützt diesen Marsch, der am kommenden Dienstag in Genf endet.

Dort beginnt am 3. Juni in Genf die 86. Tagung der ILO. Auf Punkt IV der Tagesordnung steht ein Abkommen, die extremen Formen der Kinderarbeit unverzüglich zu beseitigen und eine Empfehlung für innerstaatliche Aktionsprogramme auszusprechen.

Seit ihrer Gründung im Jahre 1919 beschäftigt sich die ILO mit dem Thema Kinderarbeit. Es folgten 1929 ein Abkommen gegen Zwangsarbeit und 1973 ein Abkommen zur Festlegung von Mindestaltern für verschiedene Beschäftigungsarten. Seit 1991 existiert das von der ILO gegründete Internationale Programm zur Abschaffung von Kinderarbeit (IPEG) mit mittlerweile rund 700 Aktionsprogrammen in 20 Ländern.

Dennoch ist die Bilanz ernüchternd. Die Verschärfung des Wettbewerbs im Zeichen der Globalisierung führte dazu, daß immer mehr Kinder aus armen Ländern und zunehmend auch in den entwickelten Industriestaaten arbeiten müssen. Das führt zu einem Teufelskreis: Kinder ohne Schulbildung bleiben ihr Leben lang Billigstarbeiter und gründen Familien, die selbst wieder auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen sind, um zu überleben.

Und dennoch: Im ILO-Report von 1997 warnt die Organisation vor dem Mythos, daß gegen Kinderarbeit erst etwas unternommen werden könne, wenn eine der Ursachen, die Armut, beseitigt sei. Die Abschaffung der Kinderarbeit ist nicht in erster Linie ein wirtschaftliches, sondern ein politisches Problem. Mit weniger als einem Prozent der jährlichen weltweiten Rüstungsausgaben wäre es bis zum Jahre 2000 möglich, allen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen.

Was neben staatlichen Übereinkommen und Programmen möglich ist, zeigen Initiativen von Verbraucherorganisationen wie das RUGmark-Siegel der US-amerikanischen Koalition gegen die Ausbeutung von Kinderhänden etwa in der Teppichindustrie. Es reicht aber nicht aus, Kinderarbeitsplätze durch Druck auf die Hersteller abzuschaffen. Denn nach Schätzungen von Unicef schuften lediglich fünf Prozent aller arbeitenden Kinder weltweit in der exportabhängigen Industrie. Und häufig mußten Kinder, die aus solchen Arbeitsverhältnissen befreit worden waren, zu noch niedrigeren Löhnen, unter noch ungesicherteren Bedingungen in Haushalten oder auf dem Lande schuften, wo sie den Augen der staatlichen Inspekteure und Journalisten entzogen sind. Fast alle Länder kennen Gesetze gegen Kinderarbeit. Es fehlt indes oft an Personal oder politischem Willen, die Einhaltung zu überwachen.

Ein ermutigendes Beispiel gibt es in Bangladesch: Durch ein US- Einfuhrverbot für Waren aus Kinderarbeit waren dort 1992 50.000 illegal in der Bekleidungsindustrie beschäftigte Kinder entlassen worden. Nach zweijährigen zähen Verhandlungen und einem Angebot finanzieller Unterstützung erreichten lokale Organisationen zusammen mit Unicef und der ILO 1995 ein Abkommen mit den Bekleidungsfabrikanten: Die Kinder bekamen für vier Monate wieder ihre Arbeit, es wurden keine weiteren Kinder eingestellt. Dann wurden die entlassenen Kinder mit monatlichen Stipendien in ein Schulprogramm übernommen und ihre Jobs qualifizierten erwachsenen Familienmitgliedern angeboten.

Der Vorentwurf für das in Genf auszuhandelnde Abkommen empfiehlt neben dem Bann extremer Formen der Kinderarbeit wie Sklaverei, Prostitution und Schuldknechtschaft innerstaatliche Aktionsprogramme, an denen Arbeitgeber und Gewerkschaften beteiligt werdem sollen. Das deutsche Bündnis für den Kindermarsch will hier regierungsunabhängige Organisationen verbindlich mit einbeziehen.