Kaleidoskop der Zeichen und Komplotte

■ Tausend verschiedene Arten, „Bonjour“ zu sagen: Zum 70. Geburtstag von Jacques Rivette zeigt das Metropolis das Rätselspiel Out 1 – Noli Me Tangere ungekürzt

Die Erzählung ist ein recht anhänglicher Geist. „Wenn man sie zur Tür hinausläßt, kommt sie zum Fenster wieder herein.“ Das sagt einer, der es wissen muß. Denn trotz seiner Ausflüge ins konventionell Narrative zählt Jacques Rivette zu den Ghostbustern des französischen Kinos. Zu jenen „Jungtürken“, wie sich Godard, Chabrol, Resnais, Truffaut und Rohmer nannten, die mit ihren Cahiers du Cinéma ausgezogen waren, dem Kino das zurückzuerobern, was ihm die Unterwerfung durch den Plot geraubt hatte: das Flüchtige, die Andeutung, das freie Spiel der Assoziationen, Uneindeutigkeiten und Ereignisse.

Während Truffaut eifrig das Altherrenkino zur Schnecke machte, Godard junge Menschen auf der Leinwand forderte, rechnete Rivette mit „dem großen Problem des aktuellen französischen Films“ ab: mit seiner „Feigheit“. Doch für ihn stand bald fest, daß die einzig wahrhaftige Kritik eines Films nur ein anderer Film sein kann, und der durfte nur eine Hauptdarstellerin dulden: das „Lebensechte“. Die reine Bewegung sollte über den Inhalt dominieren, das gestische Zeichen über die Bedeutung, die Mise en Scène über das Drehbuch.

Trotz dieses Credos fielen Rivettes erste Arbeiten recht konventionell aus und wurden sogar nach einem festen Drehbuch gefilmt. Das änderte sich erst, als er nach einer Kette von abgebrochenen Projekten und finanziellen Mißerfolgen eine Dokumentation über Jean Renoir abdrehte. Die Begegnungen mit „Le Patron“, wie Rivette den Altvater knicksend nannte, stupste seine eigene Arbeit in eine neue Richtung. Seine Figuren sind fortan flüchtige Körper, die der Zufall aufeinanderprallen läßt, bis sich ihre Wirklichkeiten und Phantasien unentwirrbar verklöppeln.

Zwischen Dokumentation und Magie inszeniert Rivette 1970 in nur sechs Wochen Out 1 – Noli me tangere, den das Metropolis zu Rivettes 70. Geburtstag ungekürzt zeigt. Ein Improvisationsmarathon von 12 Stunden und 40 Minuten. Zwei Theatergruppen proben Stücke von Äschylos, üben sich in Meditation und Körperbeherrschung in der Art des Living Theatre, Rivette schaut ihnen dabei zu. Unermüdlich, unerbittlich. Wie sie sich auf tausend verschiedene Arten „Bonjour“ sagen, wie sie sich mit imaginären Gebrechen auf dem Boden wälzen, winseln, quälen oder erlösen und nach jedem Kontakt wieder auseinandertreiben. Das biblische „Berühre mich nicht“ läßt die Protagonisten zu Magnetfeldern werden, deren Anziehung und Abstoßung im Privaten weiterwirken.

Zwei Außenstehende ziehen immer engere Kreise um die Schauspieler. Frédérique (Juliet Berto), die mit herbeigesponnenen Tragödien Passanten das Geld aus der Tasche zieht, und der taubstumme Colin (Jean-Pierre Léaud), der Ahnungslosen seine Schicksalsdeutungen ins Ohr bläst. Als Colin rätselhafte Botschaften über die „Gruppe der 13“, ein Patchwork aus Balzac- und Lewis-Carroll-Texten, erhält, verwandelt sich sein Leben in ein Kaleidoskop der Zeichen und Komplotte. Die Welt, von der bedeutungslosesten Alltagsgeste bis zu ihrem innersten Zusammenhalt, wird ihm immer unerklärlicher. Seine Ermittlungen decken nichts auf, stapeln nur weitere Verstrickungen aus diffusen Polizeigeschichten bis zu Legenden aus der Terroristenszene der Action Directe.

Out 1 beginnt mit seinen enervierend ausführlichen Probenszenen wie eine Zumutung. Doch je länger es dauert, desto stärker zaubert Rivette eine Leichtigkeit hinein, die uns in die Schule des Zusehens lockt. Ob Colin fünf geschlagene Minuten aus Snark zitierend durch die Straßen rennt, Unverdauliches auf seiner Mundharmonika bläst oder die Schauspielertruppe unermüdlich den melodiefreien Schrei probt. Alles wird zum Ereignis und Out 1 zum großangelegten Spiel um die Verwechselbarkeit von Zusammenhang und Einzelheit, von Kryptogrammen und dem Offensichtlichen, von Ordnung und Zufall. Und ganz egal, welche Luke Rivette schließt, an der nächsten Wandöffnung stehen sie wieder da und winken. Die Gespenster der Erzählung. Birgit Glombitza Folge 1 bis 4: Fr, 29. Mai / Folge 5 bis 8: Sa, 30. Mai, jeweils 18 Uhr, Metropolis