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: Das graue Gesicht der chinesischen Provinz: „Xiao Wu“ im fsk

Taschendiebstahl ist in China ein Beruf mit Tradition. Aber weil Traditionen in der Volksrepublik nicht mehr das sind, was sie mal waren, wird es für Xiao Wu immer komplizierter, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Polizei schaut ihm genauer auf die Finger, alte Freunde wenden sich ab, die eigene Familie wirft ihn raus, und die Liebe verliert er.

Jia Zhang Ke hat „Xiao Wu“ in seiner Heimatstadt Fenyang mit Laiendarstellern gedreht. Ohne finanzielle Mittel, nur mit Hilfe von Kommilitonen von der Pekinger Filmhochschule, dafür aber völlig unabhängig ist ihm ein fürchterlich realistisches Bild der chinesischen Provinz gelungen. Die Kamera, die auf schier endlosen Fahrten dem kettenrauchenden Xiao Wu durch die Stadt folgt, fängt gleichförmige graue Häuserwände und staubige Straßen ein. Die Menschen tragen alle denselben leeren Blick über Märkte, in Bussen und Karaokebars. Das einzige Gefühl, das es hier zu geben scheint, ist Apathie. So viel Trostlosigkeit hat lange schon niemand mehr auf die Leinwand zu bringen gewagt. Dabei verzichtet „Xiao Wu“ auf alle filmischen Tricks und wirkt trotz seiner Spielhandlung jederzeit wie ein Dokumentarfilm. Diese Diskrepanz ist die filmische Entsprechung für die Zerrissenheit der chinesischen Gesellschaft, von der der Filmemacher auf der Berlinale sprach, wo der Film im Forum lief. Daß der Film den Weg heraus aus der Volksrepublik gefunden hat, ist ein kleines Wunder.

Der Dieb sticht allein durch seine fahrigen Bewegungen heraus aus dem Meer graublauer Anzüge, aber selbst in seiner hektischen Nervosität liegt auch bei ihm eine grenzenlose Lethargie. Andererseits: So viel jugendliche Rebellion war seit „The Wild One“ nicht mehr. Für Xiao Wu wird seine Coolness, mag sie in unserem Kulturkreis noch so pubertär wirken, zum Schutzschild gegen den übermächtigen Anpassungsdruck des Staates. Wie jeder rebellische Einzelkämpfer, wie Marlon Brando oder Jimmy Dean vor ihm, muß auch Xiao Wu untergehen. Aber auch hier gewinnt die Niederlage erst durch das Scheitern ihre Größe. Oder noch simpler: Märtyrer sind nun mal sexy. Thomas Winkler

Ab heute, 21.15 Uhr, im fsk, Oranienplatz, Kreuzberg