■ Daumenkino
: Verbotene Gier

Wenn junge Mädchen in früheren Zeiten Kerzen stahlen, dann waren sie zu nachtschlafender Zeit dabei, unerhörte Dinge zu tun. Vielleicht studierten sie Mathematik, wie Sophie Germain (1776 bis 1831). Wenn man aber nicht nur liest, sondern im Kino sieht, wie ein junges Mädchen Kerzen stiehlt, sich in der Nacht ihres Hemdes entledigt, um im armseligen Kerzenlicht vor einem nicht minder armseligen Spiegel ihren nackten Körper zu betrachten und zu berühren, dann wird es kribbelig. Doch das Mädchen Artemisia Gentileschi (Valentina Cervi) studiert nur Kunst. Allein, in Ermangelung der Modelle, an sich selbst.

Der Einstieg zu „Artemisia Gentileschi“ ist fulminant, und der Film der französischen Regisseurin Agnès Merlet hält auch im weiteren, was er von Beginn an verspricht. Er ist die Geschichte einer verbotenen, großen und unerschrockenen Neugierde. In den herrlichsten Kostümen. Er erzählt von einem weiblichen Ehrgeiz, aber auch einer weiblichen Begabung, über die Maßen der Schicklichkeit hinaus. In den schönsten Landschaften und Innenräumen.

Freilich hat es die Geschichte der Artemisia Gentileschi (1593 bis 1653) in sich. Denn die Barockmalerin ist nicht nur aufgrund ihrer Gemälde, besonders ihres so sinnlichen wie grausamen „Judith enthauptet Holofernes“ (1620) berühmt, sondern auch aufgrund des Vergewaltigungsprozesses, den ihr Vater, der Maler Orazio Gentileschi (Michel Serrault), gegen ihren Lehrer Agostino Tassi (Miki Manojlovic) angestrengt hatte. Merlet rekonstruierte diese Geschichte der Vergewaltigung nun als die einer Leidenschaft. Es ist Artemisia, die Tassi erobert. Doch der will die Affäre nicht in einer Ehe legitimieren. So kommt es zu dem aufsehenerregenden Prozeß.

„Why Have There Been No Great Women Artists?“ Mit dieser Frage schreckte die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin 1971 ihre Disziplin. Nur feministische Wissenschaftlerinnen stellten solch peinliche Erkundigungen an. Schon ein Vierteljahrhundert später aber geben knapp zwei Stunden unterhaltsamen, instruktiven und spannenden Kinos darauf eine Antwort. Wer sagt, daß es keinen Fortschritt gibt? bw

„Artemisia Gentileschi“. Regie: Agnès Merlet. Mit Valentin Cervi, Michel Serrault u.a. F 1998, 102 Min.