Der letzte Humanist

■ Es geht um mehr als Spaß: Christoph Schlingensief besuchte den neuen Bremer Landesverband von „Chance 2000“ und sammelte über 100 Unterschriften

Bundesweit erheitern Spaßparteien ermüdetes Wahlvolk. In Nürnberg ließ sich vor drei Jahren ein fußschwacher Kandidat für das Bürgermeisteramt in einer hochherrschaftlichen Sänfte durch die Stadt tragen. Ein „Kollege“ in Regensburg nannte seine Partei „Alzheimer“ und schwor heilige Eide, jedes hehre Wahlversprechen mit Kohlscher Zuverlässigkeit zu vergessen, zu ignorieren, zu brechen: Dadaismus gegen verlogene Poli-tikrituale.

Mit dieser Guerillataktik der Verulkung hat Christioph Schlingensiefs „Chance 2000“ rein gar nichts zu tun. Etliche BremerInnen konnten gestern zwar erleben, daß die Inszenierung von „Chance 2000“ durchaus verspielt ist – und im Kontrast zur grausam grauen Rhetorik der herrschenden Politik am eigenen Spaß interessiert. Das Anliegen aber ist 100 Prozent ernst gemeint. Und es ist ernst! „Chance 2000“ versteht sich als offene Bühne, und zwar für all diejenigen, die am meisten abkriegen (zum Beispiel an schönen Sparmaßnahmen), aber am wenigsten gehört werden: Arbeitslose, Behinderte, Alkis... Bauminister des Schattenkabinetts sei ein Nuschler mit Hasenscharte, schwärmt Ladislav Klein, Pächter des Überseerestaurants und stolzer Vater des jungen Gründers des Landesverbandes Bremen.

Chance 2000 steht in der Tradition des Mehr-als-nur-Psychiaters Felix Guattari. Auch er wollte allen Randständigen dieser Welt „die Stimme zurückgeben“ statt sie mit Hilfe zuzuschütten, sie zu passiven Empfängern von nicht selbst gewählten Wohltaten zu degradieren. Passend dazu war Schlingensiefs erste Tat, als er gestern um 12h, high noon, vor dem Überseemuseum zarte Kontakte mit seinem potentiellen Wahlvolk knüpfte: Binnen 3,7 Sekunden brachte Schlingensief einen fetten Haufen Kids zum Skandieren: „Wir lieben das Internet, wir lieben das Rhizom.“ Vom Rhizom, Guattaris Denkbild des Wurzelgeflechts ohne Zentrum, aber voller Verknotungen und Verstrebungen, haben sie wahrscheinlich noch nichts gehört. Für sie war die Plärrerei eine Gaudi. Für Schlingensief war es mehr als Jux. Die sprachliche Gleichschaltungsübung war gedacht als guter, alter, aufklärerischer Akt, eine Entlarvung von Anpassungsbereitschaft. „Nicht viel anders als in Berlin. Ich schreie ,Tötet Kohl' und 400 Menschen schreien mit ,Tötet Kohl', auch ein gestrenger Immobilienmakler mit Schlips. Wahnsinn.“

Rhizomatisch ist auch die Parteistruktur. Jeder zählt, jeder ist wichtig, hat ein Potential, darf seinen Teil zum Parteiprogramm beitragen, entweder im Diskursraum Internet oder durch kühne Aktionen allerorten. Einzige Voraussetzung: Das Interesse an radikalen Veränderungen. „Wir haben nicht ein Ziel, sondern so viele wie Mitglieder.“ Deshalb die Wahlparole „Wähle dich selber.“ Das ist eine Neuauflage der Basisdemokratie und Schlingensief der letzte Humanist auf Gottes Erden.

Redlich bemühte er sich denn auch, dem Ulkgegröhle der Anarchistischen Pogo Partei (APPD) mit tolerantem Geist zu begegnen. Bei dem Wortbeitrag „Machst Du Dada oder Gaga“ mußte er dann aber doch passen. Die Meinungsvielfalt seines Projekts ist eben ernsthafter angelegt. Der sympathische Theatermann erzählt von der Schwierigkeit, dem herrschenden „Netz der Inszenierungen“ zu entrinnen – „Wir sind alle Helmut Kohl“ –, aber auch vom Glück des Neuen und Unkalkulierbaren, das ihm diverse Gespräche mit Arbeitslosen beschert haben. „Das ist spannender als Stadttheater, in dem letztlich jede Inszenierung von Kohl stammt“, heißt es in Schlingensiefs schönem, neuen Kuddelmuddelbuch. Das Ergebnis der unnachahmlichen Mischung von Ironie und Ernst im Museum, im Europakino und am Bahnhofsplatz waren über 100 Stimmen. 535 Unterschriften müssen in Bremen gesammelt werden für die Zulassung dieser französisch-postmodernen Partei zur Wahl. bk

Listen liegen aus im Überseerestaurant und beim Viertelfriseur „Headhunter“. Internetadresse: www.chance2000.com . Schlingensief: „Chance 2000. Wähle Dich selbst.“ 128 S., 12 Mark