■ Brüsseler Fahrradschule lehrt devensives Kampfradeln
: Überlebenswichtige Reflexe

Vor einigen Monaten hat die Verwaltung von Brüssel rund um die Europäische Kommission nagelneue Fahrradspuren auf die Straßen malen lassen, nur für mich. Jedenfalls habe ich sonst noch niemand darauf radeln gesehen. Nicht, daß es in Brüssel keine Radfahrer gäbe, das Land ist nicht umsonst bekannt für seine großen Talente, Eddie Merckx und so. Bloß fahren die entweder bei der Flandern-Rundfahrt oder Crossroad über Stock und Stein. In den normalen Straßenverkehr traut sich kaum einer.

Nun aber, nachdem die Stadt die teuren Fahrradspuren eingerichtet hat, würde sie sie gern etwas beleben. Interessanterweise wird vor allem auf den Autobahnen des Landes fürs Radfahren geworben. Die bunten Plakate mit der radelnden Blonden zwischen zwei Lastwagen, der die Kavaliere der Landstraße ins üppige Dekolleté starren, sind allerdings inzwischen durch einen grauhaarigen Herrn mit wehendem Schal abgelöst worden. Der zieht zwar die Blicke nicht so an, provoziert bei 130 kmh aber weniger prekäre Situationen.

Als Werbemotiv ist der soignierte ältere Herr ohnehin besser gewählt. Denn wie die vor kurzem gegründete Brüsseler Fahrradschule herausgefunden hat, würden die Belgier schon gern Fahrrad fahren – doch die meisten trauen sich einfach nicht mehr, den Autofahrern Paroli zu bieten.

Die Plakate an den Fernstrecken sollen die Gasfüße also vor allem daran erinnern, daß Radfahren in Belgien legal ist. Das kann man gar nicht genug betonen: Unser letzter Familienausflug wäre kürzlich an der ersten Kreuzung fast schon zu Ende gewesen. Aufgebrachte Automobilisten wollten uns von den Fahrrädern zerren, weil wir das Leben von Kindern gefährdeten – unserer Kinder, die wir in Verkennung des belgischen Rechtsgefühls auf Kindersitzen mitgenommen hatten. Weil Sonntag war, wurde die Lynchjustiz auf Bewährung ausgesetzt.

Konsequenterweise unterrichtet die Erste Brüsseler Fahrradschule das Radfahren als defensive Kampfsportart: „Respektieren Sie die Regeln, aber machen Sie klar, daß Sie die Straßen mit demselben Recht benutzen wie die Umweltverpester.“ Die Fahrradschule versteht sich als Vorkämpfer einer in Vergessenheit geratenen Transportidee. Fahrradfahren sei gesund, praktisch und für die täglichen Besorgungen in der Stadt überaus geeignet, wird dort gelehrt. Besonderen Wert legen die Übungsleiter auf den Hinweis, daß Radfahren an sich nicht gefährlich sei, sondern lediglich der häufig anzutreffende Autoverkehr. Für das „Diplome de cycliste urbain“, eine Art Befähigungsnachweis für innerstädtisches Radeln, werden eine ganze Reihe überlebenswichtiger Reflexe eingeübt. Vor jeder möglichen Gefahrenstelle sei unbedingt mit allen anderen Verkehrsteilnehmern Augenkontakt aufzunehmen, um Mißverständnisse rechtzeitig zu erkennen. Das ist nach unserer Erfahrung tatsächlich wichtig, aber noch keine Garantie, nicht doch von seinem Blickpartner überfahren zu werden. Dahinter steht nicht unbedingt ein böser Wille. Es ist nur so, daß die Führerscheinprüfung in Belgien eine eher neumodische Einrichtung ist und die Fahrschulen den Umgang mit Fahrradfahrern offensichtlich noch nicht in ihr Programm aufgenommen haben. Auf jeden Fall bekommen belgische Autofahrer einen leicht panischen Blick, wenn irgendwo ein Zweirad auftaucht. Darauf hat sie offenbar niemand vorbereitet.

Fairerweise muß gesagt werden, daß sich Belgier bei Umfragen stets selbst als schlechte Autofahrer outen. So viel realistische Selbsteinschätzung gibt es sonst nirgends in Europa. Schon deshalb halten die meisten Belgier jeden für bescheuert, der sich ohne schützendes Blech auf die Fahrbahn wagt. Alois Berger