Sehr viele Versprechen

Der Solinger Mehmet Yildiz über seine Stadt fünf Jahre nach dem Brandanschlag auf die Familie Genç  ■ Von
Rafael R. Pilsczek

In der Nacht, als die fünf Mädchen und Frauen im Einfamilienhaus an der Unteren Wernerstraße in Solingen verbrannten, schläft Mehmet Yildiz. Er hat seine Abendschicht als Taxifahrer beendet und fällt vor Müdigkeit um. Vor fünf Jahren, in der Nacht zum 29. Mai 1993, schläft ganz Solingen. Niemand ahnt, daß nach dieser Nacht die Stadt im Bergischen Land nicht mehr so sein wird, wie sie war. Bis heute.

Am nächsten Morgen hören Mehmet Yildiz und seine Frau in der Nachrichtensendung des Westdeutschen Rundfunks von dem Anschlag. Yildiz geht sofort los. Er ist damals Vorsitzender des türkischen Volksvereins, kennt die Stadt, in die er als 20jähriger zu seinen Eltern nachzog, in- und auswendig, und hat seit Hoyerswerda, seit Rostock, seit Mölln geahnt, daß ein Anschlag von Rechtsextremen überall möglich wäre. Nun ist es in Solingen passiert.

Der Taxifahrer bleibt eine Stunde an dem Haus, das wie zerbombt aussieht und ausgebrannt ist. Hunderte von Menschen sind da: „Sie hatten verzweifelte, versteinerte Gesichter“, erinnert sich Mehmet Yildiz, „alle, die Menschen und die Stadt, standen unter Schock.“

Aus großen, freundlichen Augen schaut Mehmet Yildiz heute, fünf Jahre später, aus den Fenstern seines Café-Restaurants „Piya“ auf die Straße. Der 39jährige betreibt es seit einem Jahr. Es ist Nachmittag. Deutsche und Türken gehen an dem Café an der Konrad- Adenauer-Allee in der Solinger Nordstadt vorbei. Mehmet Yildiz sieht sie nicht. Er hat wieder das Haus der Familie Genç vor Augen und erzählt von einem Gedicht.

Er hat es nach dem Anschlag geschrieben, auf deutsch, aus Schmerz, um irgend etwas zu tun. „Aber ich bin kein Dichter“, sagt er und nippt an seinem Teeglas, in das er, wie alle anderen, immer zwei Stücke Zucker hineingibt, bis es randvoll ist. Obwohl das Glas heiß ist, behält er es in der Hand.

Dietmar, Volker und Eva, Studenten, Freunde von Mehmet Yildiz, bringen eine Zeitung ins Café, in der das Gedicht abgedruckt ist. Es ist nicht lang:

Ein Kind flog im Traum in das

unendliche Blau.

Ein Kind flog im Traum über

grüne Wiesen.

Ein Feuer flog auf seine Flügel.

Es verbrannte, das Kind.

Es brannte.

Es war kein Traum.

Was verbrannte, war die Hoff-

nung.

Was verbrannte, waren unsere

Kinder, unsere Frauen.

Jetzt brennt es in uns.

Das Haus, in dem die Familie Genç gelebt hat, steht nicht mehr. Es wurde abgerissen. Jetzt wächst Gras auf dem Grundstück. Fünf Kastanien sollen an die fünf Todesopfer des Anschlags erinnern. Familie Genç konnte aus Spendenmitteln ein neues, dreigeschossiges Haus bauen, die Stadt Solingen gab ihnen für das Grundstück in der Unteren Wernerstraße ein anderes. Das Haus der Gençs ist heute eine Festung mit Zaun, Gitter und Videoüberwachung.

An die Untere Wernerstraße geht Mehmet Yildiz kaum noch. Er will den Ort nicht mehr sehen. Auch zur Mahnwache heute in der Innenstadt von Solingen und zum stillen Gedenken am Bürgermahnmal gegen Nazismus an der Mildred-Scheel-Schule wird Mehmet Yildiz nicht gehen.

„Ich habe 20 Jahre lang Politik gemacht“, sagt er, „ich habe Reden gehalten, auf Versammlungen gesprochen. Manche hielten sich die Ohren zu, andere warteten immer darauf, daß ich was sage. Aber ich bin kein Politiker. Ich habe nichts mehr zu sagen.“

Yildiz ist schweigsam geworden und mit ihm die Stadt. Vor zwei Jahren legte er den Vorsitz des Volksvereins, einer Art türkischem Heimatverein, nieder.

Vor einem Jahr eröffnete er das Café. Und will es schon bald wieder schließen und noch mal neu anfangen. „Ich bin nicht zufrieden, ich lebe nicht. Es muß etwas in mir passieren.“

Waren im Jahr nach dem Anschlag Hunderte von BürgerInnen in Initiativen engagiert, gab es mit dem „Solinger Appell“, mit „SOS Rassismus“ und mit der Gruppe „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ geradezu eine Bewegung für Mitmenschlichkeit in Solingen, so ist aus ihr erst ein Zusammenschluß von Gruppen, dann ein loses Bündnis, schließlich das Engagement von einzelnen geworden. Wie auch anders, Trauer verzehrt. „Es hat sich nichts Grundlegendes verändert“, sagt Yildiz auf einem Abendspaziergang durch die Innenstadt, die eine einzige Baustelle ist. „Viele haben viel versprochen. Das Wahlrecht für Ausländer. Doppelte Staatsbürgerschaft. Ein Bekenntnis zum Einwanderungsland. Das wenige, was getan wurde, hätte besser nicht getan werden sollen.“ Er findet es nicht ausreichend und lächerlich, was die Deutschen in Solingen machten.

Damit meint der Kurde, der im Osten der Türkei aufwuchs, die Aktivitäten der Stadt. Die SPD-geführte Stadtregierung steckte nach dem Anschlag viel Geld in die Jugendpolitik, sanierte Schulgebäude und finanzierte eine Stelle bei „SOS Rassismus“. Die Politiker sind stolz, daß sie trotz leerer Kassen ein interkulturelles Jugendzentrum weiterfinanzieren, das durch eine Millionenspende der Bertelsmann-Stiftung eingerichtet wurde. Alle, von der CDU bis zu Bündnis 90/Die Grünen, sagen, daß einiges getan wurde. Während der CDU-Fraktionsgeschäftsführer, Jochen Welp, das Zusammenleben „unproblematisch“ findet und, ganz Partei- Wahlkampflinie, vor „braunen wie rotem Terror“ warnt, weiß der Fraktionssprecher von Bündnis 90/ Die Grünen, Reiner Daams: „Genug kann man nie tun. Grundlegendes kann nur Bonn tun.“

Das Schockierende am Solinger Anschlag war die Erkenntnis, daß er überall hätte passieren können. Die vier Täter, Christian R., Christian B., Markus G. und Felix K., waren Söhne aus Solinger Familien. Keine Kadernazis hatten den Brandsatz geworfen, sondern Jugendliche, die kaum wußten, was sie taten. Das paßt vielen Solingern nicht, weder konservativen noch linken. Die einen wollen nicht die Herkunft der Täter sehen, die anderen können das Banale der Tat nicht ertragen. Die Gerüchte um den Prozeß sind bis heute nicht verstummt. Viele glauben, drei der Täter seien unschuldig. Allein Christian R. legte ein – später widerrufenes – Geständnis ab.

„Nach dem Anschlag“, meint Mehmet Yildiz, „hatten viele Deutsche Schuldgefühle. Bekannte kamen auf mich zu und entschuldigten sich, selbst wenn ich vorher Ärger mit ihnen hatte, weil ich mit ihren Frauen geflirtet hatte. Das war merkwürdig. Später schlugen die Schuldgefühle in Aggression um. Auf einmal wollten sie mich nicht mehr sehen.“ Er macht eine Pause: „Dabei will ich nicht als Türke angesehen werden, sondern als der, der ich bin, Mehmet. Dieses Menschenrecht fordere ich ein.“

Mehmet Yildiz lebt immer kurz unter Null. Zwei Jahre hat er an der Kölner Universität Wirtschaft studiert, mußte aber wegen Geldmangels abbrechen. Mit diversen Jobs hat er seine vierköpfige Familie ernährt. Er ist ein melancholischer Mann, der ernst dreinschaut. Doch wenn er einmal lacht, steckt das Lachen an. Als Sohn armer Eltern hatte er beruflich so gut wie keine Chance in Solingen, wo sein Vater jahrzehntelang in einer Eisenwarenfabrik an einer Maschine stand. Er hat sich anders Respekt erworben, taucht überall in Solingen auf, redet und feiert mit, sei es in einer Alternativkneipe oder in den feineren Restaurants in Solingen- Grefrath.

Mehmets Bruder, Hüseyin (17), dagegen gehört zu einer anderen Generation. Er hat weniger seine Ausbildung als Fußball und Mädchen im Sinn. Hüseyin geht regelmäßig ins „Getaway“, die einzige brauchbare Diskothek in Solingen. Der Geschäftsführer, kein Ausländerfeind, hatte schon Schwierigkeiten mit Skins und Dealern. Mit Hüseyin nie. Er ist immerhin der Bruder von Mehmet Yildiz, der den Laden einmal vor dem Überfall von Antifa-Aktivisten bewahrt hat.

Als Symbol für die schreckliche Normalisierung in der Stadt kann gelten, daß am vergangenen Montag Hüseyin und drei seiner Freunde zum erstenmal nicht in das „Getaway“ kamen. Der Türsteher schrie sie am Eingang an: „Ihr kriegt lebenslänglich keinen Eintritt mehr.“ Einen Anlaß für das Verbot hatten die vier nicht gegeben. Sie paßten dem Türsteher einfach nicht.

„Warum?“ fragte Mehmet Yildiz seinen Bruder einen Tag später. „Weil wir anders aussehen“, antwortet Hüseyin, „weil sie vergessen haben, was du für sie getan hast.“ Er meint Mehmets Intervention bei den Antifa-Aktivisten. Aber vielleicht meint er auch, weil die Solinger vergessen haben, was heute vor fünf Jahren passiert ist.