Die Regierung in Karachi hat ihre Drohung wahr gemacht: Gestern zündete Pakistan als Antwort auf die jüngsten Atomtests seines Nachbarn und Erzfeindes Indien mehrere atomare Sprengsätze und leitete damit einen neuen Rüstungswettlauf auf dem Subkontinent ein. Beide Länder, obwohl sie zu den ärmsten der Welt gehören, stecken Milliarden in ihr Atomprogramm. Aus Delhi Bernard Imhasly

Muskelspiel zur eigenen Sicherheit

Mitten in der Nacht wurde gestern der indische Botschafter in Islamabad aus dem Bett geholt und ins Außenministerium zitiert. Dort wurde ihm eröffnet, es gebe Anzeichen für einen bevorstehenden Schlag Indiens gegen Pakistans Atomanlagen. Pakistan sei bereit, wurde dem Diplomaten eröffnet, die Reaktion werde umgehend erfolgen und verheerend sein.

Es war eine Szene, die sich seit den indischen Atomtests vom 11. und 13. Mai nun schon zum dritten Mal wiederholte. Während die indische Regierung die Schreckensmeldungen routinemäßig dementierte und der Premierminister hoch und heilig versicherte, Indien habe keine aggressiven Absichten, zeigten die nervösen Reaktionen jenseits der Grenze, daß solche Versicherungen dort nicht mehr geglaubt werden. Die indischen Tests hatten bewirkt, daß jeder dem anderen alles zutraut.

Gestern nachmittag nun hat Pakistan ernst gemacht und fünf atomare Sprengsätze gezündet. Damit ist auch die Bedrohung auf dem Subkontinent um einige weitere gefährliche Grade erhöht worden. Es betrifft hier zwei Gegner, die zwar zu den ärmsten des Planeten gehören, deren Streitkräfte aber zu den größten der Welt zählen: 1,1 Millionen Mann in Indien, knapp die Hälfte in Pakistan. Unbestritten ist die Tatsache, daß die beiden Länder im Bereich der Militärausgaben gegen internationale Trends schwimmen. Nach Angaben des Human Development Report für Südasien wurden die Armeebestände zwischen 1985 und 1995 weltweit von 29 auf 24 Millionen zurückgefahren, während sie in Südasien in der gleichen Zeit um 12 Prozent zunahmen. Dieselben gegenläufigen Tendenzen gelten für die Militärausgaben und die Rüstungsbestände, und sie erklären, warum Indien und Pakistan im internationalen Waffenbasar heute die größten Kunden sind.

Entsprechend diesen Trends haben sich die Militärbudgets beider Länder in den letzten zehn Jahren ständig erhöht. Auch ihr Anteil am Gesamthaushalt des jeweiligen Staates nimmt zu. Der Anteil umfaßt im Falle Indiens rund 16 Prozent, im Falle Pakistans rund 30 Prozent der Staatsausgaben. In Zahlen bedeutet das für Indien 11 Milliarden US-Dollar, für Pakistan 4 Milliarden US-Dollar. Allerdings sind diese Zahlen irreführend, was sich etwa darin zeigt, daß kaum eine Statistik der anderen gleicht. So sind in den Angaben die Zinsen für die Schulden nicht berücksichtigt, die jedes Land für seine Waffenkäufe zahlen muß. Paramilitärische Einheiten, die Hunderttausende von Mann umfassen, werden im Budget des Innenministeriums geführt. Die Budgets für Atomwaffenentwicklung werden in den Ausgaben für Wissenschaft und Technologie versteckt, jene für Raketen bei der Raumfahrt.

Beide Länder begründen die Aufrüstung mit der historisch gewachsenen Bedrohung. Nach der Teilung beider Länder vor 50 Jahren mit einem Blutzoll von mindestens einer Million Menschen haben beide Länder drei Kriege miteinander ausgefochten, zwei um den Zankapfel Kaschmir, einen um die Abtrennung Pakistans und die Gründung von Bangladesh im Jahr 1971. Dies war der bisher letzte Krieg, und der ehemalige Armeechef Sundarjii führt dies auf die Abschreckungswirkung des bald nach 1971 einsetzenden geheimen Atomwaffenprogramms zurück. Plausibler jedoch scheint ein anderer Grund: Pakistan hat nach drei verlorenen Kriegen seine Strategie ändern müssen.

Statt dem zahlenmäßig überlegenen Indien in einem offenen Krieg zu begegnen, hat es begonnen, Stellvertreterkriege zu führen: mit Hilfe von militanten Untergrundgruppen in Kaschmir und durch Bombenkampagnen extremistischer Muslime in indischen Metropolen. Derselbe Vorwurf kommt aus Pakistan: Indien wird verdächtigt, die religiösen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten anzustacheln. Doch auch dieser Kleinkrieg ist kostspielig: Er bindet in Kaschmir bis zu 200.000 Mann indischer Truppen, und Karachis Bombenprojekte verhindern Milliarden von Dollar an Auslandsinvestitionen.

Der 50jährige Konflikt ist vor allem deshalb so virulent, weil beide Länder es nicht fertiggebracht haben, die Spannungen durch einen offeneren Personenverkehr allmählich abzubauen. Kontakte sind selten und beschränken sich auf ein paar tausend Sikh-Pilger und eine Schar von Sportlern, Intellektuellen und Künstlern.

Die schiere Größe Indiens erlaubt es dem Land, die riesigen Militärausgaben besser zu verdauen. Es ist vor allem Pakistan, das für den selbst auferlegten Zwang, sich mit Indien zu messen, einen hohen Preis bezahlt. Das Land war während der Hälfte seiner noch jungen Geschichte unter der Herrschaft der Militärs, und die Generäle üben noch heute einen entscheidenden Einfluß auf die Politik des Landes aus. Pakistan kommt nur auf ein Fünftel von Indiens Bruttosozialprodukt und nur ein Siebtel von dessen Bevölkerung. Der Umfang seiner Streitkräfte jedoch ist nur um die Hälfte geringer.

Die im Kleinkrieg um Kaschmir ständig neu entfachte Verbitterung hat es auch unmöglich gemacht, daß sich die Politiker beider Länder von ihren erstarrten Sicherheitskonzepten verabschieden. Ein Denken, das Sicherheit auf Menschen statt auf Territorien, auf Individuen statt auf Nationen baut, ist den Planern des Subkontinents noch fremd, ungeachtet des Schicksals der Sowjetunion. Die Atomtests in Indien und Pakistan sind das Ergebnis dieses Denkens. Allein die hohen Kosten des indischen Atomprogramms – es wurde von indischen Zeitungen auf bisher rund 36 Milliarden US-Dollar geschätzt – würde genügen, die Hälfte der rund 150 Millionen Ärmsten in Indien über die Armutsschwelle zu heben.