Heilpraktiken als reine Glaubenssache

Der Name Hildegard von Bingen verkauft sich prächtig – auch im medizinischen Bereich. Kristalle, Salben, sogar Dachsfelle, aber in erster Linie Dinkelprodukte sollen Wunder vollbringen. Medizinhistoriker sind über diese Leichtgläubigkeit entsetzt: Alles sei nur Geldschneiderei – und aus ärztlicher Sicht grotesk und gefährlich.  ■ Von Wolfgang Löhr

Für die Bochumer Medizinhistorikerin Irmgard Müller steht fest: „Das ist zum Teil kriminell, was da den Patienten versprochen wird.“ Ihre Kritik gilt dem Geschäft mit den Rezepturen und Therapien der Hildegard von Bingen. Eine solche Vermarktung sei so grotesk und irrig wie die vielen anderen Alternativmethoden, mit denen die Menschheit seit vielen Jahren für viel Geld beglückt werde. Der Rummel um den 900. Geburtstag der Heiligen hat auch der Hildegard- Medizin einen Boom beschert. Hunderte von Kräuterrezepturen, Heilsteinen und Dinkeldiäten, zahlreiche Pillen und Salben, selbst Dachsfelle werden unter dem Namen der Bingenerin angeboten.

„Sie müssen klar unterscheiden zwischen Hildegard-Medizin und der Medizin Hildegards“, erläutert die Professorin, die sich seit Jahren mit der Welt und den Schriften der Mysterikerin beschäftigt. „Der Begriff Hildegard-Medizin“, so Müller, „ist ein absolutes Artefakt.“ Die „Hildegard-Medizin“, wie sie sowohl von ihren Anhängern als auch ihren Gegnern genannt werde, gebe es erst seit 1970, unterstützt Klaus-Dietrich Fischer, Professor am Medizinhistorischen Institut der Universität Mainz, seine Kollegin.

Der Prophet der Hildegard-Medizin war Gottfried Hertzka. Der im vergangenen Jahr verstorbene Arzt war davon überzeugt, daß „Hildegards Wissen aus der Weisheit Gottes“ stamme. ER selbst habe „vor achthundert Jahren einem armseligen Geschöpf seine Medizin geoffenbart, für alle Welt greifbar“, schrieb Hertzka in seinem Buch So heilt Gott. Er will die aus den Schriften von Hildegard von Bingen entnommenen Therapieanweisungen und Kräuterrezepturen erfolgreich ausprobiert haben.

So soll der „Hildegardische Aderlaß“ in Kombination mit einer Diät nicht nur die Blutzucker- und Cholesterinwerte senken, sondern unter anderem auch helfen bei Herzinfarkt, Herzklappenfehler, Pilz- und bakteriellen Infektionen, Vergiftungen und Lungenentzündungen. Das Blutabzapfen wird sogar bei unerfülltem Kinderwunsch aufgrund von Unfruchtbarkeit empfohlen. Bei Rheuma, Durchblutungsstörungen und Grippe soll ein Dachsfellgürtel angelegt werden, bei Brust- oder Hautkrebs sei Veilchencreme angezeigt.

Um die Ungläubigen zu überzeugen, sind zahlreiche, jedoch nicht überprüfbare Patientenberichte aufgeführt. So berichtet Hertzkas Schüler und Nachfolger, der Heilpraktiker Wigard Strehlow, von einem 72jährigen Herzkranken, der durch Aderlaß und Ernährungsumstellung um eine Bypass-Operation herumkam.

Einem 60jährigen Patienten mit Herzrhythmusstörungen konnte geholfen werden, indem ihm eine Jaspiskette umgelegt wurde. Die Steine aus einer Abart des Quarzes ließen die Herzstörung schon nach wenigen Minuten wieder verschwinden. „Der Jaspis als moderner Herzschrittmacher – Unsinn“, so Medizinhistorikerin Irmgard Müller.

Der absolute Hit bei den Hildegard- Jüngern sind jedoch Dinkelprodukte. Ein ganzer Wirtschaftszweig beruft sich darauf, daß die Äbtissin Dinkel als das „beste Getreide“ bezeichnete. Es wirke „wärmend und fettend“, und sie meinte, „wer Dinkel ißt, bildet gutes Muskelfleisch“. Von dem Begründer der Hildegard-Heilkunde, Gottfried Hertzka, wurde Dinkel zum „Heilmittel Nr. 1“ gekürt. Die Auswahl in den einschlägigen Geschäften ist riesig: Brot, Bier, Kaffee, Reis, Grieß, Nudeln, Spätzle und Hörnchen – alles auf Dinkelbasis. Wigard Strehlow empfiehlt fast allen seinen Patienten, „dreimal täglich Dinkel in irgendeiner Form zu sich zu nehmen“. Morgens, mittags, abends. Und wem die Dinkelkur nicht genügt, schläft nachts auf einer Dinkelmatratze, wobei der Kopf auf einem Dinkelspelzkissen zu ruhen kommt. Genauso groß wie das Dinkelangebot ist die Palette der Krankheiten, die damit geheilt oder gelindert werden können: Geschwulsterkrankungen beispielsweise, aber auch Arzneimittelvergiftungen, wie Antibiotikaschäden, Nervenleiden, Diabetes oder Allergien.

„Selbstverständlich ist Dinkel gesund“, meint die Historikerin Müller dazu, „genauso wie zum Beispiel Hafer oder anderes Getreide mit vielen Ballaststoffen.“ Aber dazu müsse man sich nicht auf Hildegard von Bingen berufen. „Schauen Sie sich doch mal an, wieviel sie überhaupt dazu geschrieben hat“, klagt Müller, „das sind lediglich sieben oder acht Zeilen.“ Und daraus sei dann eine ganze Dinkelwirtschaft erwachsen.

Die Medizinhistorikerin vermutet, daß eine „Sehnsucht nach etwas Metaphysischem“ die Menschen dazu verleite, diese Produkte zu kaufen. Und dazu eigne sich eben der Name der Volksheiligen gut. Alles sei eine Frage des Geschäfts: „Man könnte diese Medizin ja auch Hertzka- Medizin nennen, nur dann wird da kein Mensch mehr hingehen.“

Daß die Hildegard-Heiler zur Ehrenrettung der züchterisch wenig bearbeiteten Weizenart Dinkel dann noch die botanische Taxonomie über den Haufen werfen, scheint dann nur noch konsequent zu sein: „Dinkel ist kein Weizen, sondern ein uraltes Getreide aus der Familie der Spelz- Getreidearten“, behauptet der Heilpraktiker Strehlow. Anscheinend soll auch noch die letzte Gemeinsamkeit mit dem in der Naturkostszene verbrämten blütenweisen Weizenmehl getilgt werden.

Bei seinen Kräuterrezepturen, Heilmethoden und Ernährungstherapien berufen sich die Hildegard-Mediziner vor allem auf zwei Schriften der Äbtissin – auf das umfangreiche naturkundliche Werk „Physica“ und die Schrift „Causae et Curae“ (“Ursachen und Behandlung der Krankheiten“). Die „Physica“ befaßt sich vor allem mit den Pflanzen, Tieren, Steinen und Metallen. Nicht die Zusammensetzung oder die ihnen eigenen medizinisch wirksamen Substanzen interessierten die Äbtissin. Ihr ging es um die magischen und mystischen, also göttlichen Qualitäten. Eigenschaften, die für die in der mittelalterlichen Welt lebenden Menschen real waren.

Das Verdienst der Äbtissin war es nicht nur, das soeben nach Mitteleuropa vordringende Wissen der arabischen Medizin aufzuschreiben, sondern neben eigenen Beobachtungen auch die Pflanzen der germanischen Heilkunst mit zu berücksichtigen. Alles, was sie notierte, stand in Beziehung zu ihrem Glauben.

„Die Sprache, derer sich Hildegard bedient, ist – wie könnte es anders sein? – die Sprache der Kirche, das Lateinische“, beschreibt Professor Klaus-Dietrich Fischer das Werk der Äbtissin. Die Texte sind kaum zu verstehen. Sie müssen erst mühsam interpretiert werden. „Und dann haben Sie für einen Pflanzennamen vier oder fünf botanische Exemplare, die Sie diesem Namen zuordnen können“, so Irmgard Müller, „die Krankheitsnamen sind natürlich genauso vage und unsicher.“

Häufig können auch die bei ihr erwähnten Krankheiten nicht einfach mit heutigen Begriffen gleichgesetzt werden. „Der Begriff Gicht meint bei Hildegard was völlig anderes als das, was wir heute darunter verstehen“, sagt Müller, „die Diagnosen, die Symptome von Krankheiten, das Krankheitsmodell, das Denken überhaupt sind nicht in Übereinstimmung mit unseren heutigen Vorstellungen zu bringen.“

Die unter Esoterikern nicht eben beliebte Wissenschaftlerin hält es für unsinnig, die Schriften Hildegards wie ein „modernes Pharmakologielehrbuch zu lesen, sich die Rezepte rauszusuchen und dann zu sagen, die wende ich jetzt gegen dies und jenes an.“ Und das, so ihr Vorwurf, werde von den Vertretern der Hildegard- Medizin gemacht.

Was die Sache dann noch schwieriger macht, ist, daß keine Originalschriften von Hildegard von Bingen existieren. Die beiden Werke sind nur noch als Abschriften vorhanden. Die Historiker versuchen unter anderem an Hand des Sprachstils zu rekonstruieren, was ursprünglich aus der Hand der Äbtissin stammt – oder was während des nachfolgenden Abschreibens hinzugedichtet wurde. Bei der Schrift „Causae et Curae“ wird von Experten bezweifelt, daß sie überhaupt von Hildegard von Bingen verfaßt wurde.