Das Leben, ein Totentanz

■ Moment Mal! – das neue Tanztheater-Stück von Urs Dietrich...

„Es grenzt schon an Wahnsinn, wie wir uns verstehn“ gröhlt aus dem Transistorradio das „Original Alpenland Quartett“, und das traurig-schöne Volk der Underdogs tanzt auf dem Wohnzimmerteppich Tango und Polka: „Das Wunder der Liebe, zwei Menschen ein Schatten.“

Im Bremer Schauspielhaus hatte am vergangenen Donnerstag „Moment Mal!“ seine Uraufführung und nicht lebendige Liebe war es, sondern eine Liebe im Schattenreich, die hier die Welt in taumelnde, brüske, hungrige Bewegungen versetzte. Peng!!

Mit einem lauten Schuß beginnt das donnernde Tanzvergnügen, die junge Frau auf der leeren Bühne sinkt in sich zusammen; doch auf der Bühne stirbt man nicht, man tritt nur ins Schattenreich über. Da trällert schrillvergnügt die Muse aus Lautsprechern, Varieté, Varieté, auf seinem Fahrrad fährt ein alter steifer Tanzbär im Kreis, immer im Kreis und funzelt mit seinen Fahrradleuchten in eine Leere, die langsam im Rauch versinkt. Und während die Tote sich langsam erhebt und im Sturmlauf zu ihrem ersten Tanz im Hades ansetzt, versammeln sich schemenhaft im Nebel die ersten Gestalten um einmal noch die Welt in Bewegung zu setzen.

Keine Ahnung, ob das immer so ist. In Urs Dietrichs Tanzgroteske ist es so:

Natürlich ist der Raum nicht die Newtonsche Leere, sondern irgendeine Bewegung, Beziehung, Entziehung (“I smoke shit“ ist das erste und eines der letzten Worte, das auf der Bühne gesprochen wird). Aber wie schwer ist es, dieser Bewegung wieder Einhalt zu gebieten: „Moment Mal!“ – Peng! Immer häufiger knallt der Schuß, immer ungerührter lauscht das Publikum auf der Bühne - und auf den Rängen - hinter dem Echo her – auch auf den Rängen hat man längst schon die Schwelle der Lethe überquert und so mancher lacht haltlos in die eigene Stille hinein, bis daß der Körper, sich schüttelnd, auf den engen Sitzen zu tanzen beginnt.

„Moment Mal!“ Und wieder beginnt der Tanz auf der Bühne. Dietrichs dritte Ur-Inszenierung in seinem vierten Bremer Jahr zeigt Totentänze – doch nie schnarrte die Mechanik des Leben bunter.

Ein Wohnzimmerteppich bildet auf der Bühne die Bühne, wo die Wiedergänger, aus dem Nebel im Hintergrund kommend, ihre alten Geschichten noch einmal hervorkramen.

Gewaltig verrenken sich die Prostituierte und ihr Zuhälter (Kiri Haardt und Gilles Wellinski) beim Sex – halb Vergewaltigung und halb Liebe, danach eine Zigarette im Sitzen und auf ein Neues: Mit einem aufreizenden, fordernden Animier-Tanz für einen staunenden Jungen, der auf flachen Hiphop-Sohlen um sie herumschleicht (Francisco Pimentel). Gewaltig auch, wie aus dem flachen Biedermeier des Teppichs sich der Blinden (Barbara Martinini) am Boden eine Bewegung aufdrängt, als gäbe es hier einen Spiegel, der, unsichtbar fürs Auge, dem blinden Körper ein ekstatisches Ich bereitet. Stehend erstarrt sie wieder in hilfeflehender Einsamkeit. Lustig, wie die Finger des Hausmannes (Wilfried van Poppel), der sich mit Staubsauger und Pampuschen so allerliebst ums Wohl seines Teppichs kümmert, an den Fransen entlangtanzen bis er sich zärtlich dem schlafenden Penner (Philippe Ducou) beilegt. Und was für ein Vergnügen, wenn nach all der Not wieder die beiden Gören (Ditta Miranda Jasjfi und Lara Martelli) auftauchen und im barfüßigen Pas de deux dem ganzen Elend die weißbehemdeten Schultern zeigen. Us Dietrich hat ein Welttheater aufgeführt, das nicht Geschichte noch Drama sein Motor sind, sondern der Tanz – das aber erkennt man im Leben wohl nur auf der Bühne des Todes.

Fritz von Klingräff

Die nächsten Aufführungen sind am 1. und 9. Juni um 20 Uhr im Schauspielhaus