Die bessere Love Parade

Latin-Samba-Reggae-Rhythmen – und wer weiß, was sich die Koreaner und Thailänder diesmal ausgedacht haben: Über Pfingsten zieht der Karneval der Kulturen der Welt zum drittenmal durch Kreuzberg  ■ Von Kirsten Niemann

Was all die in Berlin ansässigen Rheinländer nicht geschafft haben, gelang vor zwei Jahren erstmals den vielen ethnischen Minderheiten, die hier leben: nämlich Berlin einen eigenen Karneval zu bescheren. Statt bierseligem Geschunkel und Täterätätä liefert der Karneval der Kulturen der Welt ein vier Tage andauerndes Multikulti- Spektakel.

Zwei Open-air-Bühnen an Zossener Straße und Blücherplatz werden zum Schauplatz für die Berliner Weltmusikszene: Die Programmauswahl erstreckt sich von Bauchtanzperformances bis zu Latin-, Samba- oder Reggae- Rhythmen. Auch Veranstalter wie das Tempodrom, die Arena und das Yaam präsentieren sich über die Pfingstfeiertage im Zeichen von Multikulti: mit einer langen Nacht der Soundsystems, mit Welttheater und Kinderkarneval. An den Straßen werden exotische Speisen, alkoholhaltige Getränke und Kunsthandwerk verkauft. Der alljährliche Höhepunkt bleibt jedoch der große Straßenumzug, an dem am Pfingstsonntag 94 Gruppen aus nicht weniger als 60 Ländern mitwirken, mit rund 3.500 als schillernde Fabelwesen verkleideten TeilnehmerInnen.

Der erste Karneval der Kulturen fand an Himmelfahrt im Jahr 1996 statt und war quasi eine Reaktion auf die Anschläge auf Ausländer in Magdeburg. Zugleich hatte Andreas Freudenberg, Chef der Werkstatt der Kulturen der Welt, eine Vision: ein Fest zu veranstalten, an dem alle in Berlin lebenden Migranten teilhaben sollten. Beseelt von dem Wunsch, so viele verschiedene Kulturen wie möglich – wenigstens an einem Tag im Jahr – unter einen Hut zu bringen und ihre Vielfalt zu präsentieren. Immerhin leben rund 430.000 Ausländer aus mehr als 180 Ländern in Berlin. Doch eine gemeinsame Basis gibt es normalerweise kaum. „Wenn die Kenianer bei uns feiern“, meint Anett Szabó von der Werkstatt der Kulturen der Welt, „dann kommen garantiert keine Asiaten.“

Der Karneval hat dagegen an fast allen Orten der Welt eine Tradition: Der Wunsch, das Unterste nach oben zu kehren, auf spielerische Weise den Aufstand zu proben, scheint allgegenwärtig. Selbst Kulturen, die über keine eigenen Karnevalsbräuche verfügen, kramten in ihrer Geschichte und förderten Ähnliches zutage: So stellt das russische Jugendzentrum ein Kostümfest auf die Beine, wie es seine Landsleute in Nowgorod feiern. Chinesische Kampftänzer warten mit einer akrobatischen Kung-Fu-Einlage auf, begleitet von Trommeln und Becken. Und wer weiß, was sich die Koreaner und Thailänder erst ausgedacht haben...

Das große Vorbild der Berliner Parade ist sicherlich der bunte Umzug im Londoner Migrantenviertel Notting Hill, der größte und wichtigste schwarze Karneval in Europa, initiiert in den sechziger Jahren von einigen Gastarbeitern aus Trinidad und Jamaika. Was dort als kleines, karibisches Trommelkonzert begann, läßt mittlerweile den ganzen Stadtteil erlahmen. Nach einigen hoffnungslosen Versuchen, das Fest in den Griff zu kriegen, hat man in London indes eines begriffen: Aus dem Karneval läßt sich auch Profit schlagen. Touristenströme und Sponsoren sorgten schließlich dafür, daß auch die Stadtherren inzwischen Gelder für das Spektakel springen lassen.

In Berlin regiert indessen der Sparstrumpf. Der Senat gibt keinen Pfennig, einzige Sponsoren sind Coca-Cola und die Klassenlotterie, die in diesem Jahr 120.000 Mark zu dem Spektakel zuschießt. Unter dem Motto „Arbeit gegen Rassismus“ den EU-Topf anzugraben mißlang. Der Karneval falle nicht unter Anti-Rassismus-, sondern unter Integrationsarbeit. Also muß jede Gruppe ihre aufwendigen Kostüme selbst bezahlen – für einige ein Hinderungsgrund, überhaupt teilzunehmen.

In Insiderkreisen gilt der Karneval der Kulturen der Welt längst als die „bessere“ Love Parade. „Im Vorfeld zur Love Parade gibt es doch nur ein Thema: Müll“, meint Anett Szabó. „Und jedes Jahr wieder wundert man sich über die Dreistigkeit des Typen, der die Love Parade veranstaltet.“ Ähnlich wie bei dem Techno-Event, das längst zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden ist, wächst auch die Zahl der Karnevalisten. Während sich beim erstenmal bereits 50.000 Neugierige am Straßenrand einfanden, kamen im vergangenen Jahr 350.000 Gaffer. Vorsichtige Schätzungen rechnen an diesem Wochenende gar mit 400.000 Zuschauern. Der Karneval der Kulturen ist ansteckend: Der Erfolg in Berlin führte dazu, daß in anderen Städten – allen voran Bielefeld und Wien – ähnliche Feste gefeiert werden. Und Barbara John, die auch in diesem Jahr als Ausländerbeauftragte die Schirmherrschaft über den Karneval übernommen hat, sieht das Fest gar als „die beste Lockerungsübung im Zusammenleben der Menschen“.

Über Nörgeleien aus der konservativen Ecke setzt man sich locker hinweg. Leute, die sich an der starken Präsenz der Subkulturen mit ihren Soundsystems stören, an der Teilnahme der Wagenburgler Lohmühle oder spätestens an dem Stand des Hanf e.V., wird es wohl immer geben. Selbst aus den eigenen Reihen gab es Kritik, der Karneval würde fremde Kulturen vorführen. „Quatsch. Wir machen die Straße frei und koordinieren“, sagt Anett Szabó. „Wir zwingen schließlich niemanden.“

Der große Umzug startet am Pfingstsonntag um 13 Uhr am Marianneplatz und führt über die Adalbert-, Wiener, Liegnitzer und Reichenberger Straße zum Oranienplatz (Programm siehe Kasten)