Legehühner am Potsdamer Platz

Vor zehn Jahren wurde das Kubat-Dreieck besetzt. Weil das Gelände bis zum Gebietsaustausch am 1. Juli 1988 zur DDR gehörte, durfte die Westberliner Polizei nicht eingreifen  ■ Von Uwe Rada

Von der Aussichtsplattform am Grand Hotel Esplanade gab es den besten Blick. Dicht gedrängt standen Touristen und Schaulustige und verknipsten die Filme, die es in den Verkaufsbaracken Bellevuestraße Ecke Potsdamer Platz zu kaufen gab. Was sie vors Objektiv bekamen, war selbst für Westberliner Verhältnisse ungewöhnlich: hinten der Mauer samt Todesstreifen und davor, auf einem vier Hektar großen Gelände, Holzhütten, Zelte, Ziegen und reichlich Federvieh, darunter zwei Legehennen, gespendet vom Geschäftsführenden Ausschuß der Alternativen Liste.

Kaum eine politische Aktion hatte die politische und städtebauliche Insellage West-Berlins derart auf die Spitze getrieben wie die Landnahme am „Kubat-Dreieck“. Damals, im Mai 1988, erlebte die autonome Szene gerade ihren dritten Frühling – und zog zugleich alle Widerstandsregister: Während das Anti-IWF-Bündnis in mühsamer Theoriearbeit über der Losung „Global denken, lokal handeln“ brütete, schritt Ende Mai eine Gruppe von 40 Personen zur Tat, besetzte das offiziell Lenné-Dreieck genannte Areal und begann auf dem Busch- und Wiesengelände ein Zeltdorf zu errichten.

Anlaß war ein zwischen dem Westberliner Senat und der DDR ausgehandelter Gebietsautausch, demzufolge das offiziell zur DDR gehörende, aber auf Westberliner Seite gelegene Gelände ab 1. Juli 1988 in den Besitz des Senats übergehen sollte. Damit war der Bau der seit den siebziger Jahren geplanten Westtangente samt Tunnel unter dem Tiergarten wieder in greifbare Nähe gerückt.

Benannt nach Norbert Kubat, der am 1. Mai 1987 festgenommen worden war und in der U-Haft Selbstmord verübt hatte, avancierte das Kubat-Dreieck schnell zum politischen Symbolereignis, bei dem selbst die Polizei zunächst zum Statisten verurteilt war. Weil das Gelände offiziell unter Hoheit der sowjetischen Alliierten stand, durften die Westberliner Staatsdiener weder das Dreieck noch das „Unterbaugebiet“, einen drei Meter breiten Streifen vor der Mauer, betreten. Entsprechend schnell wuchs das Kubat-Dreieck zum Hüttendorf mit bald 150 Bewohnern an. Während die autonomen Theoretiker noch immer brüteten, hatten die Praktiker längst ihr Verhältnis zwischen global und lokal geklärt.

Aber auch zwischen staatlichen Theoretikern und Praktikern taten sich anfangs tiefe Gräben auf. Da drohten auf DDR-Seite die Grenzpraktiker zunächst mit Räumung, um es – auf Anraten der Theoretiker – alsbald bei einem Zustand der friedlichen Koexistenz zu belassen. Auf der Westseite setzten sich dagegen die Praktiker durch. Nachdem die Polizeiführung eine beim damals schon als Politspaßmacher aktiven Christian Specht beschlagnahmte Wasserpistole zur Nachricht von „Schußwaffen auf dem Lenné-Dreieck“ hochstilisiert hatte, war für die Beamten der Startschuß für einen wochenlangen Tränengas- und Wasserwerferbeschuß des Geländes gefallen. Mehr als den Vorwurf, dabei das Hoheitsrecht des DDR-Territoriums verletzt zu haben, brachte dieser Vorstoß der West-Praktiker ihren Kollegen in der Politik nicht ein. Grotesker hätte selbst ein Theaterstück über die deutsch- deutschen Befindlichkeiten vor dem Mauerfall nicht sein können.

Doch nicht nur diese Befindlichkeiten wurden mit der Besetzung des Dreiecks auf die Spitze getrieben, sondern auch die autonomen. Spätestens seit Beginn des nächtlichen Gas- und Wasserbeschusses hatte sich die Bewohner- und Symphatisantenschaft des Hüttendorfs schnell in „Mollis“ und „Müslis“ gespalten. Auf der einen Seite stand der – diesmal taktisch überaus erfolgversprechende – „Machtkampf“ zwischen „linker Gegenmacht“ und Staatsgewalt, auf der anderen der Versuch, in einem selbst angeeigneten Freiraum den eigenen Ansprüchen an kollektives Leben gerecht zu werden. Daß die Machtkampflogik schließlich über den Selbstbestimmungswunsch siegte – auch für diesen autonomen Grundwiderspruch war das Kubat-Dreieck ein Symbol.

Heute, zehn Jahre später, gibt es vor der Bellevuestraße keine Aussichtplattformen mehr und auch keine Hüttendörfer, der Kaisersaal des Esplanade ist hinter das Sony- Gelände verschoben, und an Wörter wie „Unterbaugebiet“ oder „Gebietsaustausch“ erinnern sich nur noch die Mauerberliner. Ein Symbol für allerlei Widersprüche ist das noch immer brachliegende Lenné-Dreieck freilich noch immer – für die gescheiterten Selbstbestimmungswünsche eines Investors, der den Machtkampf auf dem Immobilienmarkt vorerst aufgegeben hat.

Ein Video über die Besetzung des Kubat-Dreiecks ist bei „Autofocus“ in der Lausitzer Straße 10 auszuleihen. Telefon: 6188002