Mit Liebe zum Detail

Am Kölner Dom wird mit Akribie gearbeitet. Steinmetzen und Baumeister sind im beständigen Einsatz gegen den schleichenden Verfall. Eine Reportage aus dem Inneren eines Monumentalbaus  ■ Von Christof Boy

Gleich wird dieses elektronische Surren ertönen, das moderne Kameras von sich geben, wenn sie Belichtung und Bildtransport direkt nacheinander vornehmen. Nein, doch noch nicht. Der Fotograf hat es auch bemerkt: Die Wahl des Ausschnitts ist unbefriedigend. Noch ein Schritt zurück. Und noch einer. Dann beginnen schon die Treppenstufen. Also erst mal an der Kante stehen bleiben. Jetzt kommt der unvermeidliche Schwenk des Apparates nach oben. Dann fehlt aber der untere Teil des Bauwerkes auf dem Foto. Der Fotograf bringt seine Kamera in die Vertikale. Doch hochkant gestellt, fehlt dem Bild an den Seiten etwas. Also geht es nun doch die Treppen hinab auf das Kopfsteinpflaster der Gasse. Mehrere hundert Meter läuft der Fotograf die Burgmauer hinauf, hin und wieder dreht er sich um und hebt die Kamera prüfend vors Auge. Noch nicht weit genug weg. Schließlich bleibt er an der Stelle stehen, an der sie alle stehen bleiben, und löst endlich aus.

An jedem Tag, 365mal im Jahr, hundertfach in jeder Stunde, mehrmals pro Minute wiederholt sich dieses Ritual. Haben Sie schon mal versucht, den Kölner Dom zu fotografieren? Dann wird es Ihnen ergangen sein wie den Touristen, die aus den Bussen auf die Domplatte geschwemmt werden. Dort stehen und den Kopf in den Nacken werfen. Manche merken es gar nicht und knipsen einfach drauflos. Das sind die Glücklichen. Sie geben sich mit einem abgeschnittenen Dom zufrieden – entweder ohne Turmspitzen oder ohne die riesigen Portale. Für die anderen beginnt die Zeremonie des Ausschnittsuchens – eine mehr oder minder frustrierende Aufgabe, denn auch von dem Platz im Gäßchen, den die Touristikzentrale endlich mal als Point of View ausweisen sollte, läßt sich der Dom nur mit Weitwinkel ins Kleinbildformat zwängen.

Noch ärgerlicher bleibt aber die Tatsache, daß es fast keinen Tag im Jahr gibt, an dem die Fotografen den Dom ohne störende Gerüste ins Bild setzen können. Gerade ist am Nordturm ein gigantisches Gerüst angebracht worden, das – an Stahltrossen aufgehängt – wie ein überdimensionaler Käfig vom Turm baumelt und in der Abendsonne seinen Aluminiumkörper zum Glänzen bringt. Ein störendes metallisches Ding an dem perfekten Baukörper der gotischen Kathedrale und später ein häßlicher Fleck auf dem hart erkämpften Urlaubsfoto. Kaum jemand bemerkt, daß sich auf dem Gerüst etwas bewegt. Winzige blaue Pünktchen huschen zwischen dem Gestänge hin und her und verschwinden dann wieder. Auf einem anderen Gerüst, das weiter unten an der Nordseite angebracht ist, ist besser zu erkennen, was sich da bewegt: Zwei Arbeiter hieven mit einem Flaschenzug einen Wasserspeier über die Brüstung des Gerüstes. Die weniger als mannshohe Figur stellt einen Hund mit Flügeln dar und ist aus grauer Basaltlava gefertigt. Aber die Plastik erscheint nicht alt, keine Figur, die restauriert und wieder eingesetzt wird. Der graue Stein wirkt, als sei er eben erst fertig geworden – frische Spuren des Meißels und ein dünne Staubschicht sind zu sehen. Am Dom wird also immer noch gebaut, auch 750 Jahre nach der Grundsteinlegung.

Vor zwei Monaten stand der Wasserspeier, der jetzt seinen Platz an der neuen Sakristei gefunden hat, noch bei Annette Gonera auf dem Arbeitsbock. Sie ist eine von 25 Steinmetzen, die an der Dombauhütte für den Erhalt des Domes arbeiten. Sie soll den Wasserspeier aus einem Stück Basaltlava schlagen, denn dieser Stein gilt als besonders unempfindlich gegen die Einflüsse der Umwelt. Der Stein scheint auf dem Holzbock zu kauern, zum Quader geschnitten, glatt und ein wenig unnahbar. Wenn man den Brocken so vor sich hat, läßt sich nur schlecht vorstellen, wie Annette Gonera daraus einen Wasserspeier herstellen soll. Sie setzt die Schutzbrille auf, zieht den Lärmschutz über die Ohren und setzt den Preßluftmeißel an. Ratternd schlägt das Metall auf den Stein. Große Stücke brechen heraus, splittern ab und spritzen in den Raum. Nach wenigen Minuten hat sich eine schmirgelfeine Staubschicht über alles gelegt. Schon bald fehlen dem Quader die Ecken, es läßt sich erahnen, daß sich im oberen Drittel des Steins der Kopf befinden wird. Immer wieder blickt die Steinmetzin von dem Block auf und vergleicht, denn neben ihr steht eine Gipsfigur, eine Kopie eines Originals vom Dom. Annette Gonera muß den Gips- Wasserspeier bis in kleinste Detail kopieren. Der Dombaumeister will es so.

Der Dombaumeister ist ein kleiner, feiner Herr, der auf den ersten Blick etwas schweigsam wirkt. Doch sobald man das Thema, sein Thema angesprochen hat, gibt es für Arnold Wolff kein Halten mehr. Er packt seinen Mantel und geht, ja rennt fast aus seinem Zimmer, denn seine Ideen demonstriert er lieber am Objekt seiner Begierde, dem Dom. Auf dem Weg zum Dom kommen wir am Hauptportal vorbei. Dort blicken ein paar Engel herab, die sein Vorgänger in Auftrag gegeben hat – moderne Plastiken, die vom gotischen Stil abweichen. Der Dombaumeister schreitet energisch voran, würdigt die Figuren keines Blickes. Moderner Schnickschnack und freie Bildhauer-Arbeiten haben dort nichts zu suchen: „Das hat im Einzelfall vielleicht seinen Reiz, aber insgesamt führt es zur Verfälschung der Kathedrale.“ Wolff möchte das Bauwerk Dom so erhalten, wie es von seinen Architekten einst erdacht worden ist: „Unsere Aufgabe ist es nicht, etwas Neues zu schaffen. Wir möchten das erhalten, was damals gebaut worden ist, deswegen versuchen wir, so genau wie möglich zu sein.“

Mit einem jähen Ruck stoppt der Aufzug, mit dem wir an der Nordseite des Doms nach oben gefahren sind. Wir befinden uns in 45 Meter Höhe auf dem sogenannten Hochdach. Der Dombaumeister eilt davon, daß wir kaum folgen und noch weniger von den überwältigenden Perspektiven erhaschen können, die sich von hier aus auf die beiden Türme bieten. Plötzlich sind wir innen unter dem Dach und erkennen, daß sich hier, den Blicken der Besucher und Gläubigen entzogen, eine zweite Welt auftut – die Arbeitswelt des Doms, eine gigantische Betriebsmaschinerie mit geschäftig umhereilenden Blaumännern. Doch der Dombaumeister strebt schon weiter, er will uns etwas Besonderes zeigen. In der Spitze des Nordturms befindet sich das Gedächtnis des Doms. Hier werden auf zwei Ebenen die Kopien von Skulpturen aufbewahrt: Originale, die zu verwittert oder beschädigt waren, um noch selbst am Dom zu verbleiben, oder Gipsfiguren, die nach alten Zeichnungen neu entstanden sind. Nach einer dieser Formen arbeitet Annette Gonera ihren Wasserspeier; für den Dombaumeister sind sie ein Schatz – die visuelle Unterstützung seiner Philosophie: „Es gibt keine Kathedrale, die so perfekt in ihrer Planung und Ausführung ist. Wenn wir etwas reparieren müssen, dann müssen wir uns dieser Perfektion anpassen.“

Diese Herausforderung, den Standard der Handwerkergenerationen am Dom zu halten, hat für viele Mitarbeiter der Dombauhütte einen Reiz, auch wenn die Wege zur Perfektion manchmal sehr verschlungen sind. Falls es noch ein halbwegs intaktes Original gibt, arbeiten die Steinmetzen nach dieser Vorlage. Sind die Plastiken, Kreuzblumen oder Friese aber verschollen, wird zunächst eine Gipsfigur hergestellt. Der Skulpteur modelliert anhand von erhalten gebliebenen Zeichnungen oder mit Hilfe von Fragmenten eine Kopie aus Gips. Annette Gonera haut ihren geflügelten Hund nach einer solchen Gipsfigur aus dem Stein. Sie muß sich streng an die Vorgaben dieser Figur halten, und damit sie ihr wirklich ganz nahe kommt, kann sich die Steinmetzin einer kleinen Hilfe bedienen – einem speziellen Kopierwerkzeug, dem Punktiergerät. Eine Maschine kann man das Ding nicht nennen, dazu wirkt es wirklich zu primitiv. Es ist nur ein stängernes Gerippe, das auf einen aus dem Gipskopf ragenden Dorn gesteckt wird. Auch an dem Steinblock befindet sich an der gleichen Stelle ein Dorn. Das Gerät besteht aus mehreren verschiebbaren Gliedern mit einem Stahlstift am unteren Ende. Annette Gonera kann den Stift an jeden beliebigen Punkt der Gipsskulptur schieben – zum Beispiel auf die Zehenspitzen des Wasserspeiers. Wenn sie jetzt das Gerät vom Gipswasserspeier nimmt und auf ihr Werkstück aus Stein umsetzt, schiebt sich der Stift um die Länge zurück, die Annette Gonera von dem Basaltblock noch wegschlagen muß. So kann sie mit einem roten Stift die Stellen markieren, die schon mit dem Gipsabdruck übereinstimmen, und mit dem Meißel dort arbeiten, wo noch etwas übersteht. Ein mühseliges Geschäft. Acht Wochen wird es dauern, bis jede Rille im Flügel des Flughundes, jedes Detail der Schnauze und jeder Muskel am Bein miteinander übereinstimmen werden.

Stein ist das Hauptmaterial, das am Dom verbaut wird, doch Stein ist nicht gleich Stein. Etwa 50 verschiedene Gesteinsarten wurden am Dom verbaut, im 19. Jahrhundert war es zu fast 75 Prozent Sandstein. Damals mußten Handwerker noch nicht an Umweltverschmutzung und sauren Regen denken und suchten sich einen Stoff, der leicht zu beschaffen und zu bearbeiten war. Auch im 20. Jahrhundert dachte man nicht viel über die Haltbarkeit und Beständigkeit des Materials nach. Die Steinmetzen benutzten zwischen 1925 und 1940 auch Muschelkalk, ein Stein, bei dem das Arbeiten besonders leicht von der Hand ging. Arnold Wolff stöhnt leicht auf, wenn er daran denkt, wieviel Stellen im Strebewerk am Dom mit Muschelkalk versehen sind. Sie müssen jetzt schon wieder erneuert werden, weil das Material schon nach 60 Jahren marode wird und abbröckelt. Über schmale Metallstege führt uns der Dombaumeister über das Dach. Durch die Rosetten der Brüstung kann man nach unten sehen ins Gewirr der Strebepfeiler. Jeder Pfeiler ist mit Kreuzblumen und anderen Ornamenten versehen. Von hier oben ist gut zu erkennen, daß es den Architekten darauf ankam, den Dom trotz seiner Massigkeit filigran erscheinen zu lassen. Durch die Auflockerungen des Baukörpers haben die Erbauer des Doms ihren Nachfolgern aber jede Menge Arbeit hinterlassen. Denn das Bauwerk hat durch die vielen Verzierungen eine wesentlich größere Oberfläche und ist der Erosion durch die Witterung und die Umweltbelastungen um ein Vielfaches mehr ausgesetzt als ein kompaktes Bauwerk. Der Dombaumeister ist stehengeblieben und zeigt auf eine sogenannte Fiale. Der schlanke Pfeiler ist vom Wind und den darin mitgetragenen Sandpartikeln derart traktiert worden, daß jetzt richtige Schleifspuren zu erkennen sind – Erosions-Kanäle durchziehen wie ein kleiner Canyon den Stein.

Bei näherem Hinsehen lassen sich überall Schäden erkennen. Weltkriegsspuren wie abgeschlagene Wasserspeierköpfe und Granatlöcher, Witterungseinflüsse wie Moosbewuchs und die noch immer unwägbaren Schäden durch Auto- und Industrieabgase. Auf dem Hochdach des Querschiffes hat der Dombaumeister ein Versuchsfeld mit verschiedenen Gesteinsarten anbringen lassen, um die Umwelteinflüsse testen zu lassen. Bisher hat sich die harte Basaltlava aus den Steinbrüchen im hessischen Londorf am widerstandsfähigsten erwiesen. Aber das harte Material läßt sich auch schlechter und langsamer bearbeiten. Verzögerungen bei den wichtigen Reparaturen bleiben so nicht aus.

Der Wasserspeier hat Gestalt angenommen. Annette Gonera ist in einer Phase, in der sie eine enge Beziehung zu dem Stein gefunden hat. In der Lehre hat sie schon mal scherzhaft gesagt, daß der Stein „heute nicht mit mir spricht“, wenn es einmal nicht gut von der Hand ging. Dann mußte sie warten, bis er es wieder tat. Angst vor Fehlern hat sie keine mehr, dazu ist die Routine nach Jahren im Beruf zu groß. Respekt vor dem Material will sie sich bewahren und Respekt vor der Leistung ihrer Vorgänger aus den vergangenen Jahrhunderten: „Es ist ein schönes Ziel, zu versuchen, die Qualität zu erreichen, was sehr schwierig ist, denn im 19. Jahrhundert ist unglaublich hochwertig gearbeitet worden.“ Für den Laien sind diese Feinheiten nicht zu erkennen. Nur an der Farbe, die hell und grau hervorsticht, läßt sich der neue Wasserspeier von den alten unterscheiden. Er ist jetzt fast fertig und sieht aus wie der Zwillingsbruder der Vorlage. Wieder und wieder setzt Annette Gonera den Elektromeißel an, um noch ein wenig nachzubessern. Prüfend geht sie um die Skulptur herum und vergleicht sie mit dem Gipsmodell.

Mit der gleichen Akribie wie Annette Gonera arbeiten auch die Steinsetzer. Sie haben die Aufgabe, die Figuren und Steine zu verbauen, die in der Werkstatt hergestellt worden sind. Zwei Monate sind vergangen und dann noch ein paar Tage, bis das Gerüst angebracht worden ist, damit der Wasserspeier eingebaut werden kann. Am Haken eines Flaschenzuges surrt die Figur nach oben. Sie wird an der neuerbauten Sakristei angebracht, die noch im Jubiläumsjahr eingeweiht werden soll. Innerhalb von fünf Minuten rutschen zwei Monate Arbeit an die vorgesehene Stelle. Auch der Dombaumeister ist auf das Gerüst geklettert, um die letzten Schritte zu beobachten. Es ist ihm anzusehen, wie sehr er sich über den gelungenen Wasserspeier freut: „Er ist an einer wichtigen Stelle eingebaut. Wenn man von der Straße über die Domplatte geht, steht er hervor und ist als äußerste Begrenzung zu sehen.“ Arnold Wolff wird nicht mehr häufig dabeisein, wenn Werke aus der Steinmetzwerkstatt am Dom angebracht werden. Im Herbst nach den Jubiläumsfeierlichkeiten geht der Dombaumeister in Pension, ein schwerer Abschied, denn er hat sein Herz an die gotische Kathedrale verloren und es immer genossen, hier arbeiten zu dürfen: „Man fühlt sich privilegiert, wenn man am Dom zu tun hat. Man fühlt, daß man in einer besonderen Situation ist, die andere Menschen niemals kennenlernen werden.“

Arnold Wolff hat die Detailversessenheit der ursprünglichen Architekturidee in eine maßvolle Liebe zum Detail verwandelt. Denn nur durch die Fülle der Einzelheiten entfaltet der Dom seine Wirkung als feingliedrig gebautes Gotteshaus, das trotz seiner Größe niemals kolossal wirkt. Nicht jedem fällt das allerdings auf, denn die meisten Touristen haben nur den Blick fürs Ganze und verrenken sich bei dem unmöglichen Versuch, den Dom ganz aufs Urlaubsbild zu bekommen. Selten kommt ein Besucher des Doms auf die Idee, sein Teleobjektiv auf die Madonnen, Teufel und Drachen zu richten. Auch Annette Goneras Wasserspeier wird so das Schicksal aller Figuren am Dom erleiden, obwohl er in etwa zehn Metern Höhe angebracht ist und mit bloßem Auge gut zu erkennen ist.

Auf einem dieser Urlaubsfotos wird der geflügelte Hund allerdings nur noch ein kleiner Punkt sein. Einer von vielen kleinen Punkten, die dadurch zustande gekommen sind, daß alle Touristen dasselbe machen. Noch einen Schritt zurückgehen. Vielleicht noch einen. Aber dann ist wieder dieses verflixte Gerüst mit im Bild. Auch dafür hat der Dombaumeister einen unschlagbaren Satz parat: „Eine Kathedrale ist kein Zustand, sondern ein Vorgang.“ Diesen Vorgang haben die Menschen nun schon über ein Dreivierteljahrtausend hinweg verfolgt: Kräne im Mittelalter, Gerüste im 19. Jahrhundert, Bombenreparaturen nach dem Zweiten Weltkrieg und Hängekonstruktionen am Nordturm im Jubiläumsjahr. Wer auf ein Foto wartet, auf dem die Kathedrale ohne Gerüst abzubilden ist, hat das Bauwerk wohl nicht verstanden. Und er wird noch lange ausharren müssen, bis aus dem Vorgang Dom der Zustand Dom geworden ist.