Deutsche Gründlichkeit

■ Nicht überall, wo Theater draufsteht, ist auch Theater drin, und vielleicht sind auch Konzeptkünstler nur Schreibtischtäter: Die „Berliner Ermittlung“ von Esther und Jochen Gerz

Im Vorfeld schon schien man alles zu wissen. In unzähligen Interviews und Artikeln war das Konzept von Esther und Jochen Gerz, Peter Weiss' Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ nur mit Zuschauern zu spielen, ausgebreitet worden, so daß der Abend selbst eigentlich nur noch der Überprüfung dienen konnte. Der Medienrummel war Teil eines Projekts, das nicht bloß für die drei beteiligten Berliner Theater (Hebbel Theater, Volksbühne, Berliner Ensemble) geplant war, sondern auch auf „ausgeklappten Bühnen“ stattfinden sollte: in der Zeitung, im Radio und im Fernsehen. Zeitungsanzeigen mit Zeilen aus dem Stück, die – eine simulierte Selbstbezichtigung – unter die Porträts von Berliner Bürgern gestellt wurden, Textfragmente im Radio von Unbekannten auf Anrufbeantworter gespochen. Allerdings verursachten diese Beiträge kaum Irritation. Wenn man sie überhaupt bemerkte, so nahm man es einfach hin.

Erster Abend von dreien im Hebbel Theater. Auf jeden Zuschauer kommt ein Kamerateam. Journalisten flüstern in ihre Aufnahmegeräte. Jetzt gleich würde man eine Erfahrung machen können, würde „der Raum des Täters neu definiert“ werden. Das Licht bleibt an, die Bühne dunkel. Da steht Gerz' Dachau-Projekt „Exit“. Zwei Tischreihen mit Stühlen, auf jedem Tisch ein Album mit den fotografierten Hinweisschildern, die den Besucherverkehr im heutigen Museum mit der gleichen deutschen Gründlichkeit organisieren wie vor fünfzig Jahren den Massenmord.

Diese Gründlichkeit findet ihre Fortsetzung in der Art, wie nun der Text von Peter Weiss in Szene gesetzt wird. Freundliche Damen und Herren in Grau, die allesamt lächeln, als habe eine Sekte ihren persönlichen Kummer gegen ein unpersönliches Glück eingetauscht, verteilen Faltblätter aus Umschlägen, auf denen zum Beispiel steht: „Sektion 2 – rechts, Reihe neun.“ Da sind dann Texte aus der „Ermittlung“ abgedruckt, die wiederum wie KZ-Blocks nummeriert sind. „Text römisch zwo“ bellt der Volksbühnenschauspieler Herbert Fritsch, auf dessen Fingerzeig das Publikum immer wieder Textstellen zu lesen hat, manchmal flüsternd, manchmal laut, mal ganz allein, dann wieder im Chor.

„Es wäre sehr schön, wenn Sie sich da vorne etwas anschauen würden“, animieren die freundlichen Damen und Herren zum Gang auf die Bühne, oder sie bitten den einen oder anderen höflich darum, etwas aus dem Stück dort vorzulesen, Täter- und Zeugentexte. Und wer dort steht, versucht natürlich schön zu lesen. Aber hätte man mit der gleichen Ergriffenheit vor so vielen Menschen nicht alles vorgetragen, „Hänschen klein“ etwa? Dazwischen Einspielungen über Lautsprecher. Stimmen von Kindern, die Richterfragen stellen. Ausländerstimmen, die akzentreich Opfertexte lesen. Und nicht bloß hier ist die Falle des Klischees schnell zugeschnappt.

Das Theater wird zur Kirche. Die Zuschauer lesen brav Weiss' Texte vor, der sie den Protokollen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses entnommen hat, und sie klingen wie Gebete. Aus dem zweiten Rang kommt dann und wann ein Choral: „Die Menschen schrien nicht“, „Ich habe nichts gesehen!“ zum Beispiel oder einfach „Zahngold, Zahngold“, in barocker Mehrstimmigkeit. Das soll vielleicht ironisch sein, vielleicht sogar besonders feierlich. Es ist in Wahrheit unfreiwillig komisch. Natürlich haben alle mitgemacht. Wer wollte hier schon Spielverderber sein. Dazu bei diesem Thema! Schließlich ist Deutschland ein Land der Trauerfacharbeiter. Ob das nun die Lektion gewesen ist , wie schnell und leicht man zum Täter wird, zum Mitläufer in einem System? Eher lassen sich Überlegungen anstellen, inwieweit auch der Konzeptkünstler bloß ein Schreibtischtäter ist.

Als der zweite Abend an der Volksbühne zum Ende war, mit weniger Prominenz und weniger Kameras, stand ein junger Mann aus dem Publikum auf und wollte von Jochen Gerz wissen, was er nun zu diesem Abend zu sagen hätte. Und Gerz sträubte sich, direkt im Anschluß an die Vorstellung eine Diskussion zu beginnen. Der Raum des Kunstwerks sollte unangetastet bleiben. Erst mußten alle den Saal verlassen, um kurz darauf dorthin zurückzukehren. Dann wurde doch diskutiert, beziehungsweise das Publikum fragte, erzählte, was es fand und fühlte. Und Gerz saß auf der Bühnenrampe wie ein beleidigter Prophet, der vor einer Versammlung Ungläubiger predigen muß. Da wollte er die Leute durch den Text von Peter Weiss führen, wie 1945 die Alliierten die Deutschen durch die KZs geführt hatten, und im Nebeneffekt die Deutschen auch noch von ihrer Betroffenheitserstarrung erlösen. Und nun sagt einer, daß es so scheint, als mache „Auschwitz spielen“ Spaß, und daß er noch nie so wenig erschüttert über diesen Text war wie heute abend. Esther Slevogt