■ Ökolumne
: Zum Weinen Von Matthias Urbach

Wir haben einiges gelernt diese Woche. Daß tonnenschwere Atommüll-Container „weinen“ können. Daß Stromkonzerne nicht zuverlässig sein können. Daß Strahlenschutzexperten nichts weitersagen können. Daß ahnungslose Ministerinnen nicht zurücktreten können. Und daß sich die SPD- Fraktion nicht durchringen kann, den ganzen Schlamassel untersuchen zu wollen.

Von einer Umweltministerin, die sich trotz 3.000facher Überschreitung der zulässigen Strahlungswerte nur um den Ruf der Kernenergie sorgt, ist die vollständige Aufklärung kaum zu erwarten. Nur ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß böte zumindest die Möglichkeit, etwas aus dem Strahlensumpf ans Licht zu zerren. Doch die SPD will nicht. In der Bundestagsdebatte um Merkels Bericht sprachen Kohl, Westerwelle, Fischer und Gysi – die SPD schickte nur ihre zweite Reihe. Redete von „Merkels politischer Verantwortung“, aber nicht von Rücktritt. Dem entsprechenden Antrag der Grünen wollte sie nicht zustimmen. Es sieht ganz so aus, als wäre das Thema den Sozialdemokraten unangenehm.

Dabei ist der Fall klar: Die Stromkonzerne verschweigen seit einem Jahrzehnt ihr Wissen über die kontaminierten Transporte. Dem Umweltministerium liegt seit Jahren ein Sicherheitsbericht der Atomenergiebehörde (IAEO) vor, der auf das Problem hinweist. Daß nämlich Castoren auf ihrem Weg zum Empfänger in Frankreich aus Ritzen im Metall strahlende Teilchen ausschwitzen können. Daher, so der Bericht, sei „es nötig, Sorge zu tragen, (...) daß die Kontamination vor Abfahrt so niedrig gehalten werde, daß nicht zu erwarten ist, daß die Grenzwerte während des Transports überschritten werden“. Vorsitzender des Gremiums, das diese Sicherheitsberichte erstellt, ist ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Strahlenschutz, das Merkel direkt untersteht.

Um diese „theoretische Information“ – wie Merkel sich so gerne rausredet – zu überprüfen, hätte ein Anruf bei den Empfängern in La Hague gereicht. Die haben nicht nur von den strahlenden Tränen gewußt, sondern an der Umladestation auch noch eine Anlage gebaut, um die Transporter zu säubern. Und obwohl Merkels Behörde schon seit dem 24. April wußte, daß auch Transporte aus dem Atommeiler in Stade mehrfach ins radioaktive Schwitzen kamen, ließ die Umweltministerin am 4. Mai noch einen Transport aus Stade nach Frankreich zu.

Der Atomskandal böte einen guten Hebel, um endlich aus der unsinnigen Wiederaufarbeitung auszusteigen. Denn die hat nur Nachteile: Es entsteht waffenfähiges Plutonium, die Gesamtmenge an Atommüll wächst. Auch die Umgebung der Anlagen wird verseucht, wie die verstrahlten Tauben aus Sellafield zeigen. Würde man den Atommüll einfach an den AKWs zwischenlagern, entfielen die riskanten Transporte nach Frankreich und England. Ihr Ende wäre ein guter Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie.

Doch die SPD nutzt die Gunst der Stunde nicht. Vielleicht, weil sie fürchtet, über eine Mitverantwortung der Länder noch in den Skandal hineingezogen zu werden. Das läßt für die möglichen Atomausstiegsverhandlungen von Rot-Grün nach der Wahl nichts Gutes hoffen. Es nährt die Zweifel am Willen der SPD zu einem schnellen Ausstieg – vor allem ihres Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Nach wie vor gibt es keine Anzeichen, daß die SPD offizielle Ausstiegsszenarien entwerfen will. Zwar kursieren auch in sozialdemokratischen Kreisen Papiere, die einen Ausstieg in allerspätestens drei Legislaturperioden für möglich halten – ohne Entschädigungszahlungen an die Betreiber zu riskieren. Doch Schröder mag sich auch hier nicht festlegen. Noch vergangenes Jahr konnte er sich auch eine Restlaufgarantie für die meisten AKWs vorstellen, war auch zu einer Lösung der Atommüllbeseitigung im Konsens mit der CDU bereit. Die ungelöste Müllfrage ist aber ein wichtiges Druckmittel, um die Stromkonzerne zum Ausstieg zu zwingen.

Alles weit entfernt vom Wunsch der Grünen, möglichst rasch auszusteigen. Offenbar fürchten manche SPD-Parteistrategen gar, der Atomtransport-Skandal könnte am Ende nur den Grünen nützen, wenn man ihn am Kochen hielte. So bleibt die SPD ihrem lauen Wahlkampfkonzept treu, möglichst alles Inhaltliche zu umschiffen. Zum Weinen.