Höhere Ebene des Schreckens erreicht

■ Wie in Indien kommt jetzt auch in Pakistan nach der ersten Euphorie Katerstimmung auf

Es war ein Schauspiel wie in Indien vor zwei Wochen: Die Menschen strömten auf die Straßen, umarmten sich, verteilten Süßigkeiten und sprachen von einem Sieg Allahs. Die Boulevardzeitung Jang titelte: „Wir werden Indien zerstören.“ Selbst im indischen Srinagar hörte man statt der üblichen Gewehrsalven Knallkörper explodieren.

Soviel Chauvinismus war wohl unausweichlich nach der Rede von Premierminister Nawaz Sharif. Es war eine lange Litanei der Anklagen gegen Indien, das das Gleichgewicht gewaltsam verändert habe; es waren Vorwürfe gegen das westliche Ausland, das gegen Indien nur halbherzige Maßnahmen getroffen habe. Gleichzeitig rief Sharif seine Mitbürger auf, die Gürtel enger zu schnallen und hart zu arbeiten. Er werde den Regierungspalast räumen, und seine Familie werde sich von nun an täglich mit einer Mahlzeit begnügen. Alles gipfelte paradoxerweise im Dank an Gott für diese historische Chance. „Was uns in den letzten fünfzig Jahren nicht gelang, nun werden wir es erreichen – es wird uns gut gehen.“

Nur Stunden nach den Explosionen rief Präsident M. R. Tarar den Ausnahmezustand aus und erklärte den gestrigen Freitag zum Feiertag. Der Zweck lag allerdings nicht im Feiern, sondern es sollte verhindert werden, daß es zu einer Leerung der Devisenkonten kommt,und daß die Börsenkurse zusammenbrechen. Der Strom internationaler Verurteilungen zeigte den Pakistanern, daß sie sich auf schwere Zeiten gefaßt machen müssen. Vor allem die Sanktionen der USA und die drohenden Kreditsperren von Weltbank und Währungsfonds könnten Pakistan rasch an den Rand seiner Zahlungsfähigkeit bringen.

Allerdings festigt sich in Europa inzwischen die Meinung, daß Sanktionen, wie sich Außenminister Kinkel ausdrückte, nur wenig bringen. Diese Meinung teilen auch einige amerikanische Sicherheitsexperten. Sie sehen am Horizont bereits einen Atomversuch des Iran, dem ein isoliertes Pakistan im Namen der islamischen Solidarität die Hand reichen könnte. Damit bräche das sorgfältig aufgebaute Gebäude atomarer Nichtweiterverbreitung endgültig zusammen.

Pakistan dämpfte in der offiziellen Verlautbarung nach den atomaren Explosionen aggressives Auftrumpfen, es schlug Indien einen Nichtangriffspakt vor. Gleichzeitig hieß es aber, daß die Mittelstreckenrakete „Ghauri“ mit Atomwaffen bestückt werde, „um jedem Abenteuer des Feinds die passende Antwort zu geben“.

In Indien wurde Premierminister Vajpayee heftig angegriffen, als er sagte, die pakistanischen Tests rechtfertigten den indischen Schritt zur atomaren Bewaffnung. Die Opposition warf ihm vor, er habe das drohende atomare Wettrüsten ohne Not vom Zaun gebrochen. Auch in den indischen Zeitungen herrscht, nach der ersten Euphorie, allmählich Ernüchterung.

„Nun sind die beiden Rivalen wieder dort, wo sie begonnen haben“, leitartikelte der Business Standard und fügte hinzu: „auf einer höheren Ebene des Schreckens“. Auch The Hindu warf der eigenen Regierung vor, das Wettrüsten ausgelöst und die Region in eine schwere Krisenperiode gestürzt zu haben. Nur die Times of India gratulierte Pakistan: „Aus der heimlichen atomaren Abschreckung ist eine offene geworden. Nun besteht die Chance, daß beide Länder akzeptieren, daß ein weiterer Krieg sinnlos geworden ist.“ Bernard Imhasly, Dehli