Letter from Shanghai
: Wasserfeste Pager

■ Neue Filmidole: Statt Machos aus Albanien bekommt nun auch Chinas Jugend „Titanic“

Shaoxing, etwa 300 Kilometer südöstlich von Shanghai in der Provinz Zhejiang gelegen, hat viele Attraktionen. Wenige, eigentlich gar keine, fallen unter die Kategorie „Nachtleben“. Tagsüber kann man den Bewohnern der Stadt dabei zusehen, wie sie Shaoxing mit großer Anstrengung in das 21. Jahrhundert wuchten, mit breiten Straßen, partiell beschattet von neugepflanzten Bäumen, und unvermittelt hohen Häusern, welche die altstädtische Bebauung umzingeln, ihr die Luft abdrücken und sie quartierweise in Schutthaufen verwandeln, aus denen die Holzhändler verwertbares Gut aussortieren. Shaoxing, vom 1995 im DuMont Verlag neu aufgelegten Reiseführer noch rührend als „malerische Kleinstadt“ beschrieben, ist im Gegenteil ein Paradebeispiel für die Brutalität des Wandels von Tradition in Moderne, der auch die chinesische Provinz ergriffen hat. Der Umbruch trägt dabei Momente der Konservierung des Alten fast notwendig in sich, denn nach Shaoxing reist man auf den Spuren Lu Xuns (1881 bis 1936), Chinas bedeutendstem Schriftsteller und politischem Essayisten der ersten Jahrhunderthälfte. Alles steht noch, Wohnhaus wie Schule fast unverändert, liebevoll restauriert sowieso – gehörte der Autor doch zu den intellektuellen Wegbereitern der Revolution.

Abends bleibt wenig zu tun, sieht man vom Konsum des in Shaoxing seit angeblich über 2.000 Jahren produzierten Reisweins ab. Um so verwunderter waren wir, bei strömendem Regen, Matsch und Dunkelheit größere Mengen junger Menschen einer unscheinbaren Seitenstraße zuströmen zu sehen. Natürlich folgten wir und landeten bei einem Kino, auf dessen Hof, die Treppe hinauf, vom komplett überfüllten Fahrradstand hinein, sich unzählige Leute drängten, um – „Titanic“ zu sehen. Lu Xun wäre vermutlich entsetzt gewesen, die Blüte des Landes in begeistertem Eskapismus zu erleben, gefesselt nicht vom heroischen Holzschnitt als idealem Ausdruck politischer Agitation (wie er es im Werk von Käthe Kollwitz verwirklicht sah), sondern von Hollywoods breitwandseligem Kostümschinken.

Nun kann man sich in Shanghai schon seit Wochen keinem Taxi und keinem Supermarkt mehr nähern, ohne daß einen Celine Dion mit ihrer Durchhaltehymne verfolgt. An jedem beliebigen Nachmittag auf der Nanjing Lu verlassen Kinder die Kaufhäuser mit Puzzles und Modellbaukästen der Titanic unter dem Arm, es gibt T-Shirts, Poster, Bücher und Postkarten. Motorola nutzte die Filmpremiere, um ihre neuesten Pager unters Volk zu bringen. Was um Himmels Willen ist die notwendige Verbindung zwischen einem Seeunglück und Pagern?! Im Gegensatz zur Titanic seien die netten kleinen Spielzeuge wasserfest...

Der Triumph des Merchandising scheint total, die Kinos sind ausverkauft, obwohl oder gerade weil die Kartenpreise um ein Vielfaches erhöht worden sind und viele der elektronisch gut Versorgten den Film bereits um Weihnachten auf Raub-VCDs gesehen haben. Leonardo DiCaprio guckt aus allen Ecken und beweist, daß das männliche Schönheitsideal seit der Kulturrevolution einen weiten Weg zurückgelegt hat. Damals nämlich beschränkte sich der westliche Filmimport auf albanische Produkte, und „der Albaner“ avancierte zum Synonym leicht mysteriöser maskuliner Pracht.

Heutzutage ist es unausweichlich, daß DiCaprios Reize auf ein Publikum unwiderstehlich wirken müssen, das Legionen ephebenhafter Kanton- Pop-Sänger verehrt. Und wer weiß, so hört man eine (sehr schlanke) chinesische Freundin laut denken, vielleicht kommen mit Kate Winslet runde Frauen wieder in Mode?

Selbst das Herz des Präsidenten hat „Titanic“ auf rätselhafte Weise erobert. Jiang Zemin lobte allerdings weniger die Metaphorik eines enormen gesellschaftlichen Umbruchs denn die beruhigende Feststellung, daß selbst im Kapitalismus gute und schöne menschliche Regungen über Klassengrenzen hinweg möglich seien. Stephanie Tasch