Wenn zwei sich streiten, schlichtet die Dritte

Ende letzten Jahres wurden in der Neuköllner Rütli-Schule 23 SchülerInnen erstmals zu „Streitschlichtern“ ausgebildet. Die elf Sitzungen mit externen Pädagogen hatten Erfolg. Seitdem gibt es weniger Prügeleien auf dem Schulhof  ■ Von Julia Naumann

Die Stimmung ist gereizt. Nazle und Jakob haben Streß. Schon seit einer Woche. „Der spinnt“, sagt Nazle wütend. „Irgendwann kriegt er eins aufs Maul. Und zwar richtig“, murmelt die 15jährige und verschränkt wütend die Arme. In Gedanken ballt sie schon die Faust. In der Pause gehen die beiden wieder aufeinander los. Immer noch verbal. Um was es genau geht, wird nicht ersichtlich. Weil die Stimmung schließlich immer gereizter wird, greift Serap ein. Sie soll vermitteln. Kurzerhand verfrachtet sie Nazle und Jakob in den Schülerclub, einen Raum, kleiner als ein Klassenzimmer, aber mit zwei gemütlichen Sofas und einem Punchingball in der Ecke.

Als erstes fragt Serap die beiden, was denn nun genau vorgefallen sei. „Sie hat mich mit Papier beworfen“, sagt Jakob bockig. „Er hat mich Hure genannt“, sagt Nazle wütend. „Nicht direkt. Ich habe gesagt, es muß eine Hure gewesen sein, die meine Tasche ausgeräumt hast“, antwortet Jakob ohne mit der Wimper zu zucken.

Als die Worte immer heftiger werden, geht Serap dazwischen. Mit strenger, fast autoritärer Stimme. Sie wiederholt die Vorwürfe in klaren Worten, hakt gezielt nach. Wenn zwei sich streiten, dann freut sich nicht die Dritte, sondern sie schlichtet. Oder versucht es zumindest.

Auch nach fünf Minuten ist noch kein triftiger Grund für den Zoff ersichtlich. „Merkt ihr nicht, das ihr aus einer Mücke einen Elefanten macht?“ fragt die Streitschlichterin schließlich milde und schon leicht genervt. Nach einigem Hin und Her willigen die beiden schließlich in die Schlichtung ein. Zwar nicht richtig überzeugt, aber einigermaßen friedlich. Nur auf Seraps letzten Vorschlag wollen sie nicht eingehen: sich symbolisch die Hand zu geben.

Was Serap geschafft hat – einen Streit mehr oder weniger zu schlichten, ohne daß es zu einer Prügelei kommt –, klappt nicht immer. An der Schule, an der Jakob und Nazle vergleichsweise friedlich auseinandergegangen sind, der Rütli-Hauptschule in der gleichnamigen Straße in Neukölln, gab es Anfang Januar einen Streit zwischen Kids, der mit Schimpfworten zwischen zwei verfeindeten Jungen anfing und mit einer blutigen Schlägerei endete. Und das nur einen Monat nachdem das „Streitschlichter-Training“, an dem immerhin 23 von 287 SchülerInnen der Rütli-Schule teilgenommen haben, beendet war.

Petra Eggebrecht sieht die Schlägerei dennoch einigermaßen gelassen: „Das ist absolut keine Niederlage“, sagt die Lehrerin, die ein Großteil ihrer Stunden mit Beratungsarbeit verbringt. Man könne nicht erwarten, daß nach einem solchen Programm die SchülerInnen gewaltfrei agierten. Und die, die den Streit im Januar anfingen, seien einfach „blindwütig“ gewesen. Voller Haß. Doch, so sagt sie, die Eskalation habe auch etwas Positives gehabt, wie ein Katalysator gewirkt. Seitdem sei es viel ruhiger an der Schule geworden. Ein Flugblatt gegen Gewalt wurde verteilt, der Schulpsychologe eingeschaltet, die Streithähne mußten sich schlußendlich symbolisch miteinander versöhnen: Auf einem Foto, das in der Schule aufgehängt wurde, reichen sie sich beide die Hände. Mit gequältem Lächeln zwar, aber immerhin. Seitdem gebe es weniger Pöbeleien und Aggression, resümiert Eggebrecht. Ein sichtbarer Erfolg, der auch vom Streitschlichter-Programm herrührt, da ist sich die Lehrerin, die seit 1970 an der Rütli-Schule unterrichtet, sicher.

Das Training, das der Arbeitskreis Neue Erziehung (ANE) anbietet, wurde in den USA entwickelt und erstmals im Dezember vergangenen Jahres an der Rütli- Schule angewandt. In elf Einheiten von jeweils 90 Minuten sollen die SchülerInnen lernen, „eigenständig in Konflikte einzugreifen und Lösungen zu finden, statt diese an Erwachsene zu delegieren“, sagt Helga Baumann von ANE. Durch den Kurs solle das Selbstvertrauen gestärkt und sensibler auf Gewalt reagiert werden. Die ersten Stunden verbrachten Helga Baumann und ihre Kollegin damit, den Kids eigene Konfliktstrukturen klarzumachen. Sie mußten ihr persönliches „Konfliktnetz“ auf Packpapier aufzeichnen und dieses mit assoziativen Stichwörtern wie beispielsweise „Liebe, Geld und Besitz“ füllen. Auch nach ihren persönlichen Beziehungen fragten die Pädagoginnen die 23 SchülerInnen, von denen nur drei den Kurs abbrachen. Die Jugendlichen, von denen zwei Drittel Mädchen waren, erzählt Helga Baumann, seien erstaunlich offen gewesen: „Sie hatten ein ungeahntes Mitteilungsbedürfnis“, erzählten von ihren Schulkarrieren, von bereits erlebten Gewaltsituationen, ihren Cliquen, ihren Familien. Sehr positiv sei gewesen, daß die Pädagoginnen keinen Schüler vorher gekannt hätten und ihnen „deshalb absolut vorurteilsfrei begegnet seien“, sagt Baumann im Rückblick.

Im zweiten Teil des Kurses ging es vor allen Dingen darum, Grundtechniken der Konfliktvermittlung und Kommunikationsfähigkeit zu erlernen und zu erproben. Also offene statt geschlossene Fragen zu stellen, auf die Körpersprache zu achten, lernen aktiv zu zuhören.

Kern des Seminars, an dem übrigens nur KlassensprecherInnen teilnahmen, war das sogenannte Streitschlichtungsverfahren. Das läuft mit strengen Regeln ab: Jede Partei erzählt dem Streitschlichter den Konflikt aus seiner oder ihrer Sicht. Es darf nicht unterbrochen werden, der Streitschlichter wiederholt das Gehörte noch einmal mit eigenen Worten, „damit der Erzählende richtig verstanden wird“. Danach werden die Streitenden aufgefordert, Lösungen zu finden. Der Streitschlichter moderiert das Gespräch. „Die Jugendlichen merken dadurch schnell, daß die Konflikte oft aufgeblasen sind“, hat Baumann beobachtet. Wenn – und das kommt laut Serap ziemlich häufig vor – der Streit geschlichtet wurde, sollen die Parteien möglichst ein „Streitformular“ ausfüllen, damit die Schlichtung verbindlich bleibt. Das klingt alles sehr formal, funktioniert aber. Kommt es zu keiner Einigung, wird ein erneutes Gespräch angesetzt.

Die Streitschlichter der Rütli- Hauptschule sind mit dem Seminar sehr zufrieden. Sie seien „ungefähr einmal in der Woche“ im Einsatz, sagt Serap. Und: Meistens werden sie von den Streitenden angesprochen. Oft gehe es um Kleinigkeiten, scheinbar belangloses Geplänkel, das sich schnell zu handfester Aggression hochputsche. „Es reicht schon zu sagen ,Du siehst aber Scheiße aus‘, und schon entsteht ein Konflikt“, hat Streitschlichterin Saliha beobachtet. „Mir hat der Kurs sehr viel Spaß gemacht“, sagt die 17jährige Houda. Am „tollsten“ sei die Befindlichkeitsrunde am Anfang und am Ende jeder Sitzung gewesen, in der jeder seine derzeitige Laune beschreiben sollte.

Felix, der auch teilgenommen hat, sagt zwar, an der Rütli-Schule würden sich „alle mal prügeln“, doch schaffe er es jetzt immer wieder, Konflikte zu schlichten. Wichtig für den Erfolg sei, daß die Schlichtung nicht zu den anderen SchülerInnen dringe – nur der Vermittler und die Streithähne seien beteiligt. Denn ganz häufig gehe es um die „Ehre“. Und die könne nur „gerettet“ werden, wenn beide nicht das Gesicht verlieren würden.

Auch die Pädagoginnen Helga Baumann und Brigitte Zipperlen sind fünf Monate nach dem ersten Kurs zufrieden: „Die Jugendlichen haben sehr viel mehr Selbstvertrauen gewonnen, die sie auch in ihre Freizeit hineintragen“, sagt Baumann. Weniger zufrieden ist sie im Rückblick mit der Organisation des Seminars, denn „die Unterstützung der LehrerInnen war sehr unterschiedlich“. „Wir erlebten sie eher als EinzelkämpferInnen als als Kollegium“, moniert Baumann. Es habe wenig Nachfragen gegeben, der Schulpsychologe sei nicht informiert worden.

Nazle und Jakob sind zwei Wochen nach dem Schlichtungstermin im Club zwar immer noch keine dicken Freunde, aber Zoff gibt es auch nicht mehr. „Sie gehen sich aus dem Weg“, sagt Serap, und ihre Stimme klingt befriedigt. „So, wie wir es ausgemacht haben.“