Rasendeutsche Von Carola Rönneburg

Viele Menschen arbeiten im Schlaf weiter. Beruflicher Erfolg ist ihnen dabei nie vergönnt: Tischler polieren Möbel, die nicht glänzen wollen; Kassiererinnen geraten an teuflische Wechselgeldmaschinen; Kellner hetzen in ihren Träumen schwer beladen durch Irrgärten und können sich nicht erinnern, wer die Bestellung aufgegeben hat.

Unsereins liest. Redakteure, das ergab eine Blitzumfrage unter Kollegen, sitzen in ihren Träumen am Computerbildschirm und lesen lange, lange Texte. Die Buchstaben sind etwas größer als gewöhnlich, aber wir lassen uns täuschen und lesen. Nicht einmal der Umstand, daß die Technik im Paralleluniversum reibungslos funktioniert, macht uns mißtrauisch. Wir lesen und lesen, doch nach dreihundert Metern Buchstaben wissen wir immer noch nicht, was uns der Autor sagen will. Dann ärgern wir uns über unsere mangelnde Konzentration und beginnen von vorn – bis uns dämmert, daß Lesen zu den schwierigsten Traumtätigkeiten gehört und deshalb schleunigst aufgewacht werden sollte.

Wie aber jeder weiß, sind kurze Worte oder Bezeichnungen träumbar, „Rasendeutsche“ zum Beispiel. Und nicht ich habe mir die Rasendeutschen ausgedacht, sondern der Literaturredakteur Jörg Magenau, mit dem ich jüngst in einem meiner Träume einen Kolumnentitel erfinden sollte. Es hätte uns stutzig machen müssen, daß ausgerechnet wir beide den Titel für eine Fußballweltmeisterschaftskolumne entwickeln sollten – die Kollegen vom Sport waren jedenfalls nicht dabei –, aber da saßen wir nun, und langsam drängte die Zeit.

Dann hatte Herr Magenau den entscheidenden Einfall: „Wie wäre es mit Rasendeutsche?“ fragte er. Das war es! Wunderbar! Natürlich, Rasendeutsche! Rasendeutsche, mittlerweile ja eine feststehende Redewendung, hatten dereinst englische Sportjournalisten die Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft genannt. Was ursprünglich als Schmähung gedacht gewesen war, wurde inzwischen sogar respektvoll verwendet. „Il nuovo tedesco del campo“ war Alessandro Del Piero noch vor kurzem vom Corriere dello Sport genannt worden. Gleichzeitig hatten sich, wie es gerade mit Wortneuschöpfungen immer wieder geschieht, einige Fehlinterpretationen in der Umgangssprache etabliert: So galten etwa Datschenbesitzer als Rasendeutsche. Im Gegenzug sangen Punkbands „Rasendeutsche, die!“, beanspruchte eine Gruppe Berliner Rollheimer den Titel, und in konkret war ein sechzehnseitiges Essay „Die rasenden Deutschen“ veröffentlicht worden. Welcher Begriff wäre also besser geeignet gewesen, sowohl die sportlichen als auch die politischen Aspekte der Fußball-WM unter eine Adidas-Mütze zu bekommen? Wir waren begeistert.

Im Anschluß an diese aufregende REM-Phase konnte ich zunächst nicht glauben, daß ich das alles geträumt hatte. Beim dritten Becher Kaffee stellte ich verbittert fest: Die Rasendeutschen sind das Produkt nächtlicher, unbezahlter Überstunden – niemand kennt sie, sie stehen nicht im Duden, sie werden nicht einmal Unwort des Jahres. Im Traum sollte ich also besser wieder sinnlose Texte lesen.

Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte: Ich gedenke, Herrn Magenau in ein unverfängliches Gespräch über Deutsche, Fußball und Vegetation zu verwickeln.