■ Indien und Pakistan müssen offiziell zu den Atommächten gehören
: Die neue nukleare (Un-)Ordnung

„Ich kann mir nicht vorstellen, daß auf dem indischen Subkontinent die schlimmsten Fehler des 20. Jahrhunderts wiederholt werden; denn wir wissen doch, daß Atomwaffenversuche nicht notwendig sind für Frieden, Sicherheit, Wohlstand, nationale Größe oder persönliche Erfüllung.“ So reagierte Bill Clinton nach dem Scheitern seiner Bemühungen, Pakistan von Atomtests abzuhalten. Für den Präsidenten der westlichen Großmacht, die für atomare Tests und Aufrüstungspolitik der letzten 54 Jahre hauptverantwortlich ist, sind das bemerkenswerte Worte.

Clintons Reaktion offenbart aber auch jene Arroganz und Fehleinschätzung insbesondere der drei Atomwaffenmächte USA, Frankreich und Großbritannien, die für die jüngste Eskalation in Südasien wesentlich mitverantwortlich sind. Bei den Verhandlungen der letzten vier Jahre über ein umfassendes Verbot von Atomwaffentests (CTBT) und die unbegrenzte Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags (NPT) schlugen die drei Westmächte alle Appelle Indiens, Pakistans und einer Mehrheit der 186 UNO- Staaten in den Wind, ihren Abrüstungsverpflichtungen endlich nachzukommen. Im CTBT setzten sie zudem noch Schlupflöcher durch für „subkritische Tests“ unterhalb der Schwelle von Testexplosionen.

Als Indien und Pakistan daraufhin die Unterschrift unter NPT und CTBT verweigerten, hieß es zur Beruhigung, angesichts der großen Zahl der Unterzeichnerstaaten für diese Abkommen seien Atomwaffenversuche dieser beiden Länder „politisch nicht vorstellbar“. Nun lautet die Beruhigungsformel, es sei mit einer Stabilisierung der Beziehungen zwischen Indien und Pakistan auf der Basis einer atomaren Abschreckung zu rechnen.

Doch anders als in Europa zwischen 1945 und 1990 gibt es in Südasien kein eindeutiges Gegenüber von lediglich zwei atomar bewaffneten Gegnern auf einvernehmlich voneinander abgegrenzten Territorien. Mit China existiert ein dritter Mitspieler, der aus indischer Sicht als zumindest potentielle militärische Bedrohung viel wichtiger ist als Pakistan. Und schon bald könnte Iran in den atomaren Club eintreten. Neben dem Kaschmirkonflikt gibt es in der Region noch ein Reihe weiterer unerledigter Territorialdispute.

Die Politik der atomaren Aufrüstung und Abschreckung, die von West und Ost im Kalten Krieg praktiziert wurde, war zwar voller innerer Widersprüche und von einer irrationalen Logik bestimmt. Doch zu keinem Zeitpunkt gab es in Ost und West die nationalistische und religös-fundamentalistische Begeisterung und Hetze breiter Bevölkerungskreise wie in Indien und Pakistan.

Wahrscheinlicher als die Stabilisierung durch Abschreckung ist also eine weitere Eskalation. Sie ließe sich – wenn überhaupt – nur eindämmen, wenn die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten schnell anerkennen, daß ihr Privileg historisch endgültig und unwiderbringbar überholt ist. Nur wenn die fünf Indien und Pakistan als Atomwaffenmächte offiziell anerkennen und – unter Einbeziehung der Atomwaffenmacht Israel – in diesem Achterkreis Abrüstungsverhandlungen aufnehmen, ließe sich das Entstehen weiterer Nuklearstaaten verhindern.

Der Vorschlag, Indien und Pakistan sollten nun auch das CTBT unterzeichnen, würde wegen der Schlupflöcher für subkritische Tests den atomaren Rüstungswettlauf nicht stoppen. Wirtschaftssanktionen könnten besonders im Fall Pakistans sogar kontraproduktiv wirken. Sie würden die katastrophale soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten verschärfen und damit die fundamentalistischen Oppositionskräfte stärken, die die Regierung zu der ersten Testserie gedrängt haben. Die derzeit in Washington erwogene Idee schließlich, Indien und Pakistan künftig mit US-Geheimdiensterkenntnissen zu beliefern, damit sie zumindest nicht aus Fehleinschätzung der gegenseitigen Absichten aufeinander schießen, ist ein Rezept aus der stabilen atomaren Pattphase in Europa. Für Südasien ist es untauglich. Und wenig attraktiv. Denn die US-Geheimdienste wurden von den indischen Tests nach eigenem Eingeständnis „völlig überrascht“. Andreas Zumach