■ Die Katastrophe von Eschede war einer der schwersten Unfälle der Bahngeschichte. Mit Tempo 200 verunglückte der Intercity-Expreß "Wilhelm Conrad Röntgen" auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Hannover nach Hamburg.
: ICE 884: Endstation E

Die Katastrophe von Eschede war einer der schwersten Unfälle der Bahngeschichte. Mit Tempo 200 verunglückte

der Intercity-Expreß „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Hannover nach Hamburg.

ICE 884: Endstation Eschede

Erschüttert stehen die Menschen auf Dächern und an den Gartenzäunen. Seit um kurz nach elf Uhr die Sirenen heulten, herrscht im kleinen Ort Eschede Katastrophenalarm. Hubschrauber dröhnen in der Luft und wirbeln den Staub auf. Hinter den sauberen Vorgärten ragt ein Kran in die Höhe. Er soll die Trümmer eines der schlimmsten Unglücke in der Geschichte der Deutschen Bahn entwirren.

Nach vorläufigen Angaben fanden hier bis zu hundert Menschen den Tod, die mit dem ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ von München nach Hamburg unterwegs waren. Hunderte Passagiere wurden verletzt. Am Abend waren etwa 65 Opfer geborgen.

Wie Ziehharmonikas haben sich die Wagen des ICE zusammengeschoben, als der Zug bei Tempo 200 eine Straßenbrücke touchierte. Tonnenschwere Betonteile stürzten auf die Waggons, 3 der 13 Wagen sind zerfetzt, die andern liegen entgleist und umgekippt auf der Wiese. Allein der Triebkopf hat das Nadelöhr passiert und steht zirka 400 Meter von der Unglücksstelle enfernt.

Die Maschine hatte sich vom Zug losgerissen. Ein Bahnmitarbeiter sah die Lok an seinem Stellwerk vorbeirasen. Sofort stellte er die Signale auf Rot, um Schlimmeres zu verhindern. Der Lokführer blieb unverletzt, steht aber unter Schock und war gestern nachmittag nicht ansprechbar.

„Ich habe ein Rattern gehört und dann einen Knall“, berichtet eine ältere Frau. Sofort sind die Nachbarn zum Gleis gelaufen, einige haben die Scheiben mit Hämmern eingeschlagen, um Verletzte zu bergen. Frauen brachten Betttücher, um daraus Verbände zu machen. Zehn Minuten nach dem Unglück waren die ersten Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr am Ort, seither wimmelt es hier von Feuerwehrleuten, Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks (THW), Polizisten und Bundesgrenzschützern.

Über die Ursache des Unglücks kursierten gestern nachmittag Spekulationen an der Unglücksstelle. Wie konnte der ICE auf gerader Strecke am Betonpfeiler unter der Straßenbrücke hängenbleiben? Gerüchte, wonach ein Auto von der Brücke auf den Zug gestürzt sei, konnten nicht bestätigt werden. An der Unfallstelle waren Arbeiter mit Gleisarbeiten beschäftigt, als die Katastrophe geschah. Das auf der Brücke geparkte Auto gehörte der Bahn. Vermutlich liegt das Wrack unter den Betonteilen der zerstörten Brücke.

Den ganzen Nachmittag schleppten Helfer des THW schweres Gerät an die Unglücksstelle, wo wenige Stunden vorher noch der Weg von Eschede in den Ort Rebbelahr führte. „Meine Frau geht jeden Tag mit dem Hund über die Brücke“, berichtet ein Anlieger der Berliner Straße von seiner Schrecksekunde. Aber heute hat sie zum Glück einen anderen Weg genommen.

Neugierige haben keine Chance, aus der Nähe einen Blick auf den Trümmerhaufen zu werfen. „Wir schaffen jetzt die Leichen weg, bitte filmen und fotografieren Sie nicht“, mahnt ein Polizist. Die Journalisten gehorchen.

Bleich und sichtlich mitgenommen treten wenig später die Bahnvorstände Peter Munschwander und Axel Nawrocki vor die Reporter: „So etwas Schlimmes habe ich noch nie erlebt“, sagt Munschwander. Mehr als den Opfern unbürokratische Hilfe zuzusichern, kann er im Moment nicht tun.

Unterdessen versuchen ein paar Jugendliche mit dem Unglück ein paar Mark zu verdienen. „Gib mir 20 Mark, und ich bring' dich durch die Privatgrundstücke zum Bahngleis“, sagt einer.

Andere Nachbarn helfen lieber. „Es war furchtbar“, berichtet eine Frau gerade ein paar Journalisten. Dann hält sie inne und läßt die Reporter stehen: „Ich muß den Feuerwehrleuten Kaffee bringen.“ Denn die Rettungsmannschaften aus ganz Norddeutschland werden bis zum nächsten Tag im Einsatz sein. „Man weiß ja nicht, ob noch Verletzte unter den Trümmern liegen“, sagt ein Mann vom THW, zieht den Helm fest und läuft zum Haufen zerfetzten Metalls, dahin, wo bis zum Morgen die Brücke über der ICE-Strecke war. Joachim Fahrun, Eschede