Kraftakte zwischen Klang und Stille

■ Spannend rekonstruiert: Die Debatte zwischen John Cage und Pierre Boulez

Um genießen zu können, daß es sich bei der Wiedergabe der zweiten Klaviersonate von Pierre Boulez und der „Music of Changes“ von John Cage um zentrale Werke musikgeschichtlicher Entwicklungen handelt, ist etwas Musiktheorie nötig – und eben die ist in den fünziger Jahren durch den Amerikaner John Cage und den Franzosen Pierre Boulez entscheidend beeinflußt worden. Mit der ersten Klaviersonate von 1946 schrieb Boulez eine äußerst strenge serielle Musik – was meint, daß die vier Dimensionen eines Tones (Dauer, Stärke, Höhe, Farbe) gleichberechtigte strukturelle Parameter sind. In der zweiten von 1948 versuchte er dagegen den „totalen und bewußten Bruch mit der Gesamtheit der klassischen Dodekaphonie“, um zu neuen kompositorischen Lösungen zu kommen. Genau dieses Anliegen führte bei Cage zur Einführung des Zufalls in die Komposition, was Boulez bei aller Wertschätzung zu weit ging: „Den Zufall als Element der Komposition kann ich nicht akzeptieren“.

Cage hingegen war von der zweiten Klaviersonate „ergriffen und aufgewühlt“. Der Ende letzten Jahres herausgekommene, von der Übersetzerin Bettina Schäfer vorgelesene und kompetent kommentierte Briefwechsel der beiden zunächst engen Freunde begleitete ein schlichtweg fabelhaftes Konzert in der Galerie Katrin Rabus. Die chinesische Pianistin Pi Hsien Chen spielte Boulez' Grenzwerk in dem gewaltigen, aber aussichtslosen Versuch, den Sinn der Zwölftönigkeit noch einmal zu befragen. Der vierzigminütige Kraftakt ist nichts weniger als monumental zu nennen, und die Bitte der Pianistin, den ersten Satz noch einmal wiederholen zu dürfen, war in ihrer Spontaneität äußerst sympatisch. Die Gleichzeitigkeit von Konvention und deren Zertrümmerung verdeutlichte sie auf beeindruckendem emotionalem Niveau.

Und die „Music of Changes“, deren kompositorische Prinzipien der Anfang vom Ende dieser Freundschaft waren, spielte Pi Hsien Chen zart, poetisch, mit reichen Klangfarben. Gut wurde hier ein neues Prinzip deutlich, das die folgende Musikgeschichte mehr prägen sollte als die Serialität: das absolut gleichberechtigte Verhältnis von Klang und Stille. Wie wichtig dieses Werk – mehr als jede theoretische Auseinandersetzung – für die kulturelle Standortbestimmung bis heute geblieben ist, war dieser konturenreichen Interpretation allemal anzuhören.

Begeisterter Beifall in der gut, aber im Verhältnis zum Ereignis nicht gut genug besuchten Galerie.

Ute Schalz-Laurenze