Im Gang wird nicht geschlafen! Von Holger Wicht

Meine geschätzte nebenberufliche Tätigkeit als Skilehrer und Reiseleiter zwingt mich bisweilen, Reisebusse zu besteigen. Kapitän, Steuermann und moralische Instanz eines Reisebusses ist der Busfahrer. Fragen Sie ihn gleich eingangs nach der PS-Zahl oder noch spezielleren technischen Details seines Neoplans, wird sich umgehend seine sprichwörtliche Freundlichkeit einstellen. Denn das Heiligtum des Busfahrers ist der Bus, nichts anderes.

Ob eine minderjährige Fahrgästeschar auf der Rückbank Gruppensexorgien feiert oder im Rahmen einer schwarzen Messe einen Mitschüler massakriert – den Busfahrer läßt das kalt. Blut, Schweiß und Tränen sowie andere Körperflüssigkeiten nimmt er genau dann zur Kenntnis, wenn die Reinheit seiner Sitzpolster in Gefahr gerät. Auch der Tod von Senioren auf Kaffeefahrten läßt ihn nicht rechts ranfahren. Keinesfalls, solange die greisen Damen und Herren nach ihrem Ableben nicht im Gang zwischen den Sitzen zu liegen kommen. Dann allerdings gilt ohne Einschränkung aus Sicherheitsgründen seine Lieblingsparole, die er bei Nachtfahrten oft und gern per Bordmikrofon zur Geltung bringt: „Im Gang wird nicht geschlafen!“

Unachtsam ist, wer dem Busfahrer Humorlosigkeit unterstellt. Schon die Begrüßung der Reisegruppe weiß er in aller Regel zur Heiterkeit aller zu gestalten. Schließlich erzählt er seine schätzungsweise fünf Witze nicht zum ersten Mal. Er erzählt sie seit Jahrzehnten. Busfahrer wechseln ihre Witze seltener als Öl und Reifen. Ich glaube, sie wechseln sie nie. Das hört sich dann so an (betont langsam, hanseatisch intoniert mit einer nöligen Baßstimme, gerolltes „r“): „Herzlich willkommen an Bord, ich bin der Klaus. Der andere Busfahrer heißt auch Klaus, der liegt grad' in die Röhre, macht Lenkpause. Ja, wir ham auch Getränke an Bord, die könnt ihr hier vorne kaufen, einer von uns beiden is' meistens in die Nähe vom Lenkrad zu finden. Ja, und wenn die wieder raus müssen: auf die Chemietoilette auch die Herren der Schöpfung bitte rückwärts einparken...“

Der so spricht, den gibt es wirklich: ein niedriges, dürres Männlein mit Basecap auf der schulterlang angefetteten Haarpracht, der Mund gesäumt von üppig wirrem Bartwuchs, ein ausgewaschenes kariertes Truckerhemd. Und dann seine Beinkleider: Fast schon eine ganze Dekade chauffierte mich Klaus nicht ein einziges Mal ohne seine Thermohose. Sie wissen schon: eins dieser Modelle, die zuletzt Mitte der 80er Jahre über einen Hertie-Tresen gingen.

Wer sich nun von Äußerlichkeiten leiten läßt und glaubt, so einer könne wohl kaum seinen Bus im Griff haben, der irrt gewaltig. Wie dieses Männlein unter Ausnutzung seiner anderthalbfachen Armlänge und seines mangelhaften Körpergewichts den achten Gang (vorne rechts!) ins Getriebe seines „Bocks“ zelebriert – das hat schon eine ganz eigene Anmut. Wer erlebt hat, wie dieses schmale Kerlchen mit stoischer Ruhe sein ausladendes Gefährt durch alpine Serpentinen zirkelt, der vergißt die Schlagzeilen von Busunglücken. Der schließt beruhigt die Augen und legt die Füße hoch für ein Nickerchen. Und schreckt jäh wieder auf: „Schuhe aus!“ scheppert der Lautsprecher über dem Sitz. Denn Klaus sieht alles, auch hinten.