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Die ersten Europäer

■ Die Kultur der Iberer verfügte über eine ausgeprägte Autonomie des skulpturalen Formverständnisses. Eine Ausstellung in Bonn präsentiert Archäologie als Work in Progress

Für Pablo Picasso war es schleierhaft, warum Kunsthistoriker sein berühmtes Bordellbild „Les Demoiselles d'Avignon“ auf den Einfluß afrikanischer Plastiken zurückführten. Tatsächlich habe er beim Malen ständig die Plastiken der iberischen Skulptur vor Augen gehabt, die er aus dem Louvre kannte: „Die Konstruktionen der Köpfe im allgemeinen, die Form der Ohren und die Zeichnung der Augen“ hätten ihn beeinflußt, vertraute Picasso seinem Biographen Christian Zervos an. Später erwarb der noch junge Maler sogar einige Kleinplastiken für seine Sammlung.

Verständlich ist die kunsthistorische Ahnungslosigkeit durchaus: Noch bis vor hundert Jahren bestritt die Wissenschaft nämlich, daß es überhaupt jemals eine eigenständige iberische Kultur gegeben habe. Es bedurfte einer Initialzündung: Erst als 1897 in der Nähe von Elche eine Porträtbüste, die inzwischen als Nationalheiligtum von Madrid mit Ausleihverbot belegte „Dama de Elche“, gefunden wurde, setzte die systematische Forschung ein. Spanien, das ein Jahr später seine Kolonien verlor, begann über die Archäologie mit der Formulierung einer neuen nationalen Identität, die bis heute andauert. Nach wie vor graben die Forscher längs des Flusses Ebro und an den Mittelmeerküsten Spaniens die Relikte der iberischen Kultur aus; nach wie vor ist beispielsweise die Runenschrift jenes von autonomen Stämmen gebildeten Volkes, das zwischen dem südfranzösischen Languedoc und dem Südzipfel Spaniens zwischen Cádiz und Málaga siedelte, nicht entschlüsselt – es gibt keine bilingualen Texte, die eine Übersetzung der nicht indoeuropäischen Iberersprache möglich machen könnten.

Eine umfassende Ausstellung über die Iberer, die nach äußerst erfolgreichen Stationen in Paris und Barcelona jetzt in Bonn angekommen ist, unternimmt nun erstmals den Versuch, sich der archäologischen Forschung als Work in Progress behutsam anzunähern. Die vor allem in zahllosen Regionalmuseen der Iberischen Halbinsel zusammengetragenen Fundstücke wurden dafür zum ersten Mal in einer Präsentation aufeinander bezogen. Das faszinierende Experiment gelingt – durch sorgfältige wissenschaftliche Arbeit und durch eine überzeugende Ausstellungsgestaltung in der Bundeskunsthalle. Rund 350 Exponate werden im oberen Geschoß als unaufdringlicher Parcours durch die europäische Kulturgeschichte zwischen dem 6. und dem 1. Jahrhundert vor Christus gezeigt. Auf jede Inszenierung wird dabei verzichtet – sie ist auch an keiner Stelle nötig.

Die imposanten Steinskulpturen und kunsthandwerklichen Arbeiten in Eisen, Gold und Keramik greifen auf die kulturellen Ressourcen der phönizischen, keltischen, punischen und griechischen Nachbarn zurück, mit denen sich die Iberer auch wirtschaftlich austauschten. Sie belegen aber vor allem eine ausgeprägte Autonomie im skulpturalen Formverständnis. Während der Krieger idealisiert wird, sprechen vor allem die oft nur wenige Zentimeter großen Votivgaben eine gänzlich andere Formsprache: Hier stellten sich die Iberer ihren Göttern gegenüber als eigenständige und selbstbewußte Wesen vor.

Es ist eine komplexe Gesellschaft, die sich nach 2.500 der Öffentlichkeit in Bonn präsentiert: Die Fundstücke aus Spanien verweisen auf durchorganisierte Städte und auf eine stark hierarchisierte Gesellschaftsstruktur. Die iberischen Fürsten schufen, um ihre Macht zu untermauern und zu legitimieren, ihren eigenen Heldenmythos, indem sie monumentale Skulpturen in Auftrag gaben. Auch der Kontakt zu den Gottheiten in deren himmlischer und unterirdischer Welt war zunächst allein den obersten gesellschaftlichen Schichten vorbehalten. Erst später entwickelten sich Formen kollektiver Religiosität.

Erfreulicherweise beschränkt sich auch der umfassende Katalog nicht darauf, alle Exponate in Farbe abzubilden und zu erläutern. Seine Bedeutung als Kompendium über eine vergessene Kultur und als aktuelles Dokument über die Bedeutung archäologischer Forschung heute gewinnt er durch zahlreiche gut verständliche Essays, die die iberische Kultur in ihren historischen und kulturellen Kontext stellen. Auf diese Weise wird eine jahrtausendalte Kultur tatsächlich wieder lebendig – und macht sogar richtig Spaß. Stefan Koldehoff

„Die Iberer“. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, bis 23. August 1998. Katalog: 392 Seiten, 64 DM

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