Gedenkdemo für Tiananmen

Dissidenten fordern vor 40.000 Demonstranten demokratische Reformen. China läßt die Demonstranten in der ehemaligen britischen Kolonie gewähren  ■ Aus Hongkong Sven Hansen

Bei strömendem Gewitterregen haben gestern abend im Victoria Park in Hongkong 40.000 Menschen der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung vor neun Jahren in Peking gedacht. Es war die bisher größte pekingkritische Demonstration, seit die frühere britische Kolonie vor elf Monaten wieder unter chinesische Hoheit kam. Zugleich war sie die erste von der Pekinger Führung auf dem Boden der Volksrepublik geduldete Kundgebung zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker. Die Demonstration galt auch als Test für die Autonomie und Selbstverwaltung Hongkongs. In China selbst war die Polizei in den vergangenen Tagen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mit vorübergehenden Verhaftungen und Hausarrest gegen Dissidenten vorgegangen, um Proteste zu verhinden. In Peking verlief der Jahrestag bis auf einen Zwischenfall auf dem Tiananmen- Platz ruhig. Ein Rollstuhlfahrer und sein Bruder wurden festgenommen, als sie gegen Behördenwillkür protestierten. Ein Regierungssprecher in Peking erklärte, die Hongkonger Kundgebung stelle keine Bedrohung dar.

Der prominente Dissident Wei Jingsheng sprach per Video Grußworte zu den Menschen im Victoria-Park: „Jetzt, da Hongkong ein Teil Chinas ist, teilen die Demokratiebewegungen in Hongkong und China das gleiche Schicksal, wir sind eine Familie.“ Er forderte die Bevölkerung in Hongkong auf, ihre Freiheit zu verteidigen und China zu helfen: „Eines Tages werde China eine freie und gerechte Gesellschaft wie im Westen haben.“ Auch der erst im April freigelassene ehemalige Studentenführer Wang Dan forderte die Menschen in Hongkong auf, weiter zu kämpfen. Er war per Telefon aus New York direkt auf die Lautsprecheranlage geschaltet worden. Wang sagte unter dem Zucken eines Blitzes, er hoffe nächstes Jahr zum 10. Jahrestag unter den Demonstranten sein zu können.

Kundgebungsredner forderten die Führung in Peking auf, die offiziell als „Konterrevolution“ bezeichnete Demokratiebewegung von 1989 zu rehabilitieren. Sie verlangten, die Verantwortlichen des Massakers zur Rechenschaft zu ziehen, und beklagten Korruption und wachsende soziale Ungerechtigkeit. Sie versprachen, auch in Zukunft immer am 4. Juni für Demokratie in China zu demonstrieren. Als das Militär am 4. Juni 1989 gegen die seit Wochen auf dem Tiananmen-Platz demonstrierenden Studenten vorging, starben mehrere hundert Menschen. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt.

Die gegenüber dem Vorjahr gesunkene Zahl der Demonstranten könnte nicht nur auf das schlechte Wetter zurückzuführen sein, sondern auch darauf, daß die Bevölkerung in Hongkong das politische Klima momentan als entspannter empfindet. Auch werden die Proteste von 1989 kritischer gesehen. Eine Umfrage der Universität Hongkong ergab, daß nur noch 39,4 Prozent der Befragten den damaligen Demonstranten uneingeschränkt recht geben gegenüber 58,6 Prozent 1993. Das Verhalten der chinesischen Regierung billigen heute 13,3 Prozent gegenüber 5,7 Prozent 1993. 61,5 Prozent erwarten gar eine Besserung der Menschenrechtslage in China in den nächsten drei Jahren gegenüber 40,6 Prozent 1996.