■ Die Berichterstattung
: Ohne Blut und Tränen

Am Ort eines Unglücks, von dem es heißt, es sei das größte seiner Art in Deutschland gewesen, klingen arglose Fragen schnell merkwürdig: „Haben Sie so was schon mal erlebt?“ will die Fernsehreporterin von einem Helfer wissen. Wohl kaum.

Doch an den Sondersendungen des Unglücksabends fällt vor allem auf, wie selten sich die Berichterstatter im Ton vergreifen. Kaltschnäuzigkeit bleibt die Ausnahme. Wo sie passierte, da in moderater Form: „Natürlich haben wir eine Fülle anzubieten“, preist bei n-tv eine Ansagerin Beiträge an, „so gibt es zum Beispiel Probleme mit der Identifizierung der Leichen.“

Beiträge mißraten vor allem, wo ihre Macher routiniert wirken wollen. So bleibt die Intonation beim harmlosen Singsang der Wettervorhersage, während vom Transport der Schwerletzten in umliegende Krankenhäuser berichtet wird. Allzu glatt rutscht manchem der Jargon des Ereignisfernsehens heraus: „Bei diesem Einsatz, wie war die Stimmung?“

Zur Ökonomie des Katastrophenjournalismus gehört, daß die Konkurrenz der Medien härter wird, wenn erst die Bilder rarer werden. Gut möglich ist also, daß die Rücksichtslosigkeit der Reporter zunimmt, sobald die naheliegenden Szenen abgedreht sind. Am Tag des Unglücks allerdings wählten die Verantwortlichen bei öffentlich-rechtlichen wie privaten Sendern Aufnahmen aus, als hätten sie ihr Handwerk auf kirchlichen Kolloquien zum Thema Medien und Ethik gelernt: keine Verletzten, keine Toten, keine Hinterbliebenen.

Die Gründlichkeit, mit der die Fernsehstationen den moralischen Imperativ vieler Medienwächter befolgt haben, läßt ein paradoxes Abbild des Unfalls entstehen. Wer die Ereignisse von Eschede am Bildschirm verfolgte, sah eine Katastrophe ohne Opfer. Während das offenbar unvermeidliche Klischee vom „Bild des Grauens“ senderübergreifend Verwendung fand, blieb der Schrecken hohl. Eine merkwürdige Leere sprach aus den Bildern, gereinigt von Blut und Tränen. In dieser Situation wurde der Bildschirm zum Schutzschirm. Er ersparte den Zuschauern zu Hause den Schmerz der Ereignisse vor Ort. Das Leid trägt kein Gesicht – vielleicht ist das der unvermeidliche Preis der Zurückhaltung. Patrik Schwarz