■ Auch am Tag nach dem Zugunglück wird in Eschede über die Zahl der Opfer und den Hergang der Katastrophe gerätselt. Die grausigen Bilder haften im Kopf, viele der Helfer leiden an den seelischen Folgen des Einsatzes
: Die Ursache ist zweitra

Auch am Tag nach dem Zugunglück wird in Eschede über die Zahl der Opfer und den Hergang der Katastrophe gerätselt. Die grausigen Bilder haften im Kopf, viele der Helfer leiden an den seelischen Folgen des Einsatzes

Die Ursache ist zweitrangig

Das Zugunglück von Eschede wäre wohl einigermaßen glimpflich verlaufen, hätte es wie früher einen beschrankten Bahnübergang für die Straße nach Rebbelahr gegeben. Aber irgendwann in den 70er Jahren wurden meterhohe Rampen aufgeschüttet und eine Brücke über die Bahnlinie Hannover–Hamburg gebaut. In diesem Nadelöhr blieb der entgleiste ICE nun hängen. Tonnenschwere Betontrümmer zerquetschten Dutzende von Reisenden. „Auf der Brücke wurde viel gefahren“, sagt ein Mann aus Eschede. Im Nachbarort gebe es eine Hundepension.

Wenige Meter von dem Trümmerhaufen entfernt hinter dem Lärmschutzwall steckt eine Frau Setzlinge in ihr Blumenbeet. „Das Leben geht ja weiter“, sagt sie. Nebenan werkelt ein Mann in seinem schmucken neuen Häuschen. Die Fernsehteams und Satellitenwagen, die längs der Bahnstrecke ihre Sendungen produzieren, lassen ihn kalt. Hinter dem Wall dröhnen die Preßlufthämmer der Rettungsmannschaften. Seit Mittwoch mittag versuchen die Hilfsmannschaften fieberhaft, die Überreste des zerstörten Weges nach Rebbelahr abzuräumen. Löcher werden in die Betonplatte gebohrt, um dort Drahtseile einzuhängen und die Trümmer hochzuziehen. Ehe nicht der letzte Waggon geborgen ist, herrscht auch in Eschede weiter Rätselraten: über die Zahl der Opfer und auch über die Ursache der Katastrophe.

Rätseln tut auch die große Politik. Der Kanzler ist angereist, warnt vor „vorschnellen Schlüssen“ zur Ursache des Unglücks. Helmut Kohl spricht von der „Urgewalt, mit der die Technik zugeschlagen“ habe. „Das Barbarische und Schreckliche dieses Unglücks springt einen ja förmlich an.“ Auch Niedersachsens Ministerpräsident Schröder, wenige Stunden zuvor vor Ort, erklärt: „So etwas habe ich noch nicht gesehen. Jeder, der sich vor Augen führt, welches unermeßliche Leid dahintersteht, muß einfach berührt und traurig sein. Im Ausmaß der Trauer über die Opfer und in einer Welle der Hilfsbereitschaft sind die Deutschen sehr nahe beieinander.“ Ursachenforschung könne es erst geben, wenn alle Toten geborgen und alle Verletzten versorgt seien.

Ein Mann, der gleich nach dem Aufprall zum Unglücksort geeilt war, will Aussagen von Zugreisenden gehört haben und tauscht seine Version mit Journalisten und Nachbarn aus. Die Gerüchteküche brodelt in Eschede. „Der Zug hat schon vorher gerüttelt, außerdem sind die Schwellen weithin abgerissen“, sagt der Mann. Für ihn ist klar: Schäden an der Bahnlinie haben den ICE 884 zum Entgleisen gebracht.

Andere im Ort sehen das anders. Barbara Klug-Thies, die vor dem Bahnhof den Journalisten Kaffee und Brötchen feilbietet, wohnt seit 1949 an der Strecke, wo nach Bahnangaben täglich 300 Züge vorbeirasen. „Hier sind regelmäßig Bautrupps der Bahn zugange. Die überprüfen die Gleise und bessern die Unterfütterung aus“, sagt die Angestellte der Celler Kreisverwaltung. „Das hört man an den Signalhörnern, die tuten ziemlich oft in der Nacht.“ Die zerstörerische Wirkung des rasenden ICE kennt die Frau: „Einmal ist mein Jagdhund hinter einem Kaninchen her und dabei bis auf vier Meter an den vorbeifahrenden Zug gekommen“, erinnert sie sich. Das Tier wurde weggeschleudert und starb. Ebenso mag es zwei noch vermißten Mitarbeitern der Bahn gegangen sein. Sie waren an der Brücke auf einem Nebengleis bei Prüfarbeiten beschäftigt. Ihr Auto ist das Fahrzeug, das zu den Spekulationen geführt hatte, es könnte von der Brücke gestürzt sein und so den Unfall ausgelöst haben. Vom Wagen ragen nur ein Rad und eine weiße Tür aus dem Trümmerhaufen.

Für Rudolf Hombostel ist die Frage nach der Unglücksursache zweitrangig. Der Landwirt war als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr aus dem nahen Dorf Höfer früh am Ort des Schreckens. Er wundert sich, warum die ganze Dimension des Unglücks erst vergleichsweise spät bekannt wurde. Bis zum Mittwoch nachmittag war noch von 20 Toten die Rede gewesen. „Wer da einen Blick drauf geworfen hat, der wußte, das sind mehr Tote oder der Zug wäre leer gewesen“, sagt der Bauer.

Viele Helfer leiden inzwischen an den seelischen Folgen des Einsatzes. Grausige Bilder haften im Kopf. Ein junger Feuerwehrmann berichtet und schluckt: „Als wir mit dem Kran ein Stückchen vom Waggon hochgezogen haben, sind da zwei Leichen rausgefallen.“ Selbst die Notärzte können nicht genau sagen, ob aus einem spät freigelegten Waggon vier oder fünf Tote geborgen worden sind. Die Leichen waren völlig zerstückelt. Die Nöte der Helfer brechen besonders in Arbeitspausen auf, so in der Nacht, als die Bahn einen 300-Tonnen-Kran heranfahren mußte und die Bergungsarbeiten zeitweise ruhten. „Dann werden die Leute sehr nachdenklich und sagen, Herr Pfarrer, ich kann nachts nicht schlafen“, berichtet Hermann Spiker, und sie sind froh, daß sie das irgend jemandem sagen können. Spiker ist einer von 50 katholischen und evangelischen Geistlichen, die Helfern und verzweifelten Angehörigen Beistand leisten.

Als am frühen Donnerstagmorgen ein paar Regentropfen fielen, sagten die Helfer: „Herr Pfarrer, beten Sie, daß es nicht regnet.“ Wenigstens diese Bitte wurde erhört. Es blieb staubtrocken auf dem Acker jenseits der Bahnlinie, der den Rettungsmannschaften als Logistikzentrum dient. Über einen Feldweg wird alles Material angeliefert. So auch jene tausend zusätzlichen Asservatenbeutel, in denen die Polizei die Habe der Verunglückten einsammelt. „Wir müssen alles bergen, vom Schlüssel bis zum Schnürsenkel“, sagt ein Polizist, „das sind ja Erbstücke.“

Etwa 50 Angehörige sind nach Eschede gekommen, um am Unglücksort Aufschluß über das Schicksal vermißter Verwandter oder Bekannter zu bekommen. Die Turnhalle, wo sie von Seelsorgern betreut und mit Informationen versorgt werden, ist tabu. „Keine Presse“ steht an den schwarzen Tüchern am Eingang. Die meisten Reporter halten sich an diese Order.

Um die aus der ganzen Welt in die Südheide eingefallenen Berichterstatter zu beruhigen, organisiert die Einsatzleitung am Mittag eine Tour zur Unglücksstelle, die ansonsten weiträumig abgeriegelt ist. Auf offenen Bundeswehrlastwagen fahren Kameraleute, Fotografen und Reporter. „Ein bißchen wie im Krieg“, witzelt einer. Keiner lacht, auch den hartgesottenen Reportern gingen die Bilder des zerschmetterten Zuges nahe.

Die Menschen in Eschede haben sich am Tag zwei nach der Katastrophe an das weltweite Medieninteresse gewöhnt. In der Eisdiele Adria dürfen Laptops und Handys zum Aufladen an die Stromleitung.

Manche Anlieger an der Berliner Straße, die der Unglücksbrücke am nächsten liegt, sind schon fast Interviewprofis. Immer wieder erzählen sie, wie sie den Knall gehört haben und dann mit Decken zur Bahnlinie gelaufen sind. Aber um die Bilder von zerfetzten Leichen und verteilten Trümmern zu beschreiben, fehlen ihnen doch die Worte.

Nur Erika Kahn hat keine Lust mehr auf Journalisten. Sie wohnt in dem Haus in der Sperrzone direkt an der Brücke neben der Bahnstrecke. Sie hatte Glück. Um ein Haar hätten die kreuz und quer durch die Luft fliegenden ICE- Waggons auch ihr Grundstück erreicht. „Ich will nur nach Hause“, seufzt die Frau und schiebt ihr Fahrrad durch den Pulk der Reporter und Rettungskräfte. Im Gepäckkorb hat sie ein paar Tüten Saft und Brot. Das Leben in Eschede geht weiter.

Joachim Fahrun, Eschede