Zehnmal am Tag ein leises Plong

Ab Mittwoch geht es wieder rund. Doch welcher Fußballfan weiß schon, woher das Leder kommt? Daß ganze Familien von der Produktion leben? Daß ausgerechnet Kinder die Handarbeit leisten? Ihnen über die Schulter sah  ■ Andreas Zumach

Baggio? Matthäus? Rivaldo? – Famil Kubra blickt kurz von seiner Arbeit auf und schüttelt den Kopf: „Nein, noch nie gehört.“ Der schmächtige Neunjährige kennt nur die Mitglieder des Kricket-Teams im 15 Kilometer entfernten Sialkot, der Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts in der pakistanischen Provinz Punjab. Auch Famils Vater, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Bahar und die zwölfjährige Schwester Asma können nichts anfangen mit den Namen der Stars, die ab Mittwoch in Frankreich um den Weltmeistertitel im Fußball kämpfen.

Dabei stellt die Familie in einer ärmlichen Hütte des 400-Seelen-Dorfes Baghawal Awan die Bälle her, denen Baggio, Matthäus und Co. in mehr als 150 Ländern dieser Erde hinterherjagen. Sieben bis acht Stunden täglich hocken Famil und seine beiden Geschwister auf dem Boden der schlecht beleuchteten Lehmhütte. Durch die offenen Fensterhöhlen dringen mit der schwülen Hitze von über vierzig Grad Heerscharen von Fliegen ein. Mit schnellen, geschickten Fingern nähen die drei Kinder aus 24, 32 oder 36 vorgestanzten Kunstlederstücken zunächst zwei Ballhälften und dann die ganze Kugel zusammen. Sechs Tage die Woche. Abends haben sie gerötete Augen und klagen häufig über Schmerzen in Kopf, Rücken und Knien. Ihr 42jähriger Vater schuftet oft über zehn Stunden täglich – seit er so alt war wie Famil heute. Und auch die Mutter, die während des Journalistenbesuchs aus Deutschland gerade die zwei Babys der Familie versorgt und den Reis für das Abendessen kocht, muß mit drei bis vier Stunden täglicher Näharbeit zum Familieneinkommen beitragen. Wenn niemand durch Krankheit ausfällt, kommen bei Kubras monatlich rund 6.000 pakistanische Rupien (PR) zusammen, umgerechnet knapp 250 Mark. Bei Preisen von 16 PR für ein Kilo Reis, 14 PR für einen Liter Milch oder 111 PR für ein dreipfündiges Huhn ist das gerade genug, um die siebenköpfige Familie zu ernähren sowie Kleidung und unverzichtbare Haushaltsgegenstände zu kaufen. An Schule für die Kinder, in der zudem Uniformen und Bücher zu bezahlen wären, ist nicht zu denken.

Acht- bis zehnmal pro Tag wird die arbeitsintensive Stille in der Hütte der Familie Kubra durch ein leises „Plong“ unterbrochen. Dann ist wieder ein Ball fertig. Der Klang entsteht, wenn der letzte Knoten kunstvoll, und nachher von außen unsichtbar, zusammengezogen wird. 37 Rupien gibt es für einen Ball der Fifa-Qualitätsstufe A, 30 beziehungsweise 24 für die Stufen B und C. – Was ein Ball der A-Klasse in einem Sportgeschäft in Deutschland kostet? „300 Rupien“, schätzt Famil. Tatsächlich sind es ungefähr 2.000 Rupien, etwa achtzig Mark. Wer streicht die Differenz zwischen 37 und 2.000 Rupien ein? Famil weiß es nicht. Und die Summe von mehreren Millionen Rupien, die europäische Fußballstars wie Matthäus monatlich verdienen, übersteigt sein Vorstellungsvermögen. Famils Lieblingsspieler beim Sialkoter Kricket-Team bekommt 4.000 Rupien pro Monat und arbeitet halbtags noch in einer Autowerkstatt.

Famil, Bahar und Asma sind drei von mindestens 7.000 Kindern unter 14 Jahren, die – neben rund 30.000 Erwachsenen – im Distrikt Sialkot mit seinen rund 2,6 Millionen Einwohnern „Full-time“ Fußbälle nähen. „Full-time“ heißt in der Regel acht Stunden, in Ausnahmefällen bis zu elf Stunden täglich. Damit erwirtschaften die Kinder rund 23 Prozent des Familieneinkommens. Ohne Kinderarbeit wären die elementarsten Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen.

Die Zahlen stammen aus der bislang gründlichsten und umfassendsten Studie über die Kinderarbeit im Distrikt Sialkot. Sie wurde von der britischen Kinderschutzorganisation „Save the Cildren“ im Mai letzten Jahres veröffentlicht und basiert auf einer Erhebung in 116 Dörfern des Distrikts. Bis 1996 wurden die Fußbälle in Sialkot fast ausschließlich in Familien genäht, wie bei den Kubras in Baghawal Awan oder in kleinen dörflichen Nähzentren, in denen – wegen der strengen islamischen Sitten nach Geschlechtern getrennt – jeweils bis zu 15 Jungen und Männer beziehungsweise Frauen und Mädchen arbeiten.

Doch seit letztem Jahr vollzieht sich ein deutlicher Strukturwandel, dessen langfristige Folgen noch nicht absehbar sind. Wichtigster Auslöser dieses Wandels ist der Druck von Menschenrechtsgruppen, Verbraucherverbänden und Gewerkschaften, unter den die Sportartikelkonzerne der USA und inzwischen auch Europas wegen der Kinderarbeit bei ihren Produzenten in asiatischen Ländern geraten sind. Wesentlich auf Drängen von Nike, Reebok und anderen US-Konzernen unterzeichnete die Sialkoter Industrie- und Handelskammer (SCCI) im Februar 1997 in Atlanta, Georgia am Rande der jährlichen US-Sportartikelmesse eine „Partnerschaftsvereinbarung“ mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und dem UNO-Kinderhilfswerk (Unicef).

Ziel der „Atlanta-Vereinbarung“ ist die „schrittweise Abschaffung solcher Arbeit von Kindern unter 14 Jahren, die ihren Schulbesuch unmöglich macht, gefährlich ist oder auf andere Weise ihr körperliches, geistiges, soziales oder moralisches Wohlbefinden beeinträchtigt“. Für die schrittweise Umsetzung der Atlanta-Vereinbarung wurde eine 18-Monats-Phase von Oktober 1997 bis März 1999 festgelegt. Von den 69 lokalen Fußballherstellern, die bei der Industrie- und Handelskammer registiert sind, hatten bis Ende Mai 34 (sie produzieren zusammen siebzig Prozent der jährlichen Gesamtproduktion Sialkots) die Vereinbarung unterschrieben. Ihre Fertigung haben sie bereits zu durchschnittlich 46 Prozent in große, kinderarbeitsfreie Nähzentren verlegt, die von der ILO durch unangekündigte Inspektionen überwacht werden. Damit wäre die Umsetzung der Atlanta-Vereinbarung dem Fahrplan um einige Monate voraus. Doch diese Erfolgsmeldung sagt nichts über das Schicksal der Kinder und Frauen, die bislang genäht haben, sowie über ihre Familien.

Zu den Firmen, die das Soll der Atlanta- Vereinbarung bereits zu fast hundert Prozent erfüllt haben, gehört die SAGA. Erst vor 17 Jahren gegründet, und damit für Sialkoter Verhältnisse ein vergleichsweise junges Sportartikelunternehmen, ist die SAGA mit einem Anteil von zwanzig Prozent inzwischen größter Produzent und Exporteur von Qualitätsfußbällen und zugleich augenfälligstes Beispiel für den Strukturwandel. „SAGA City“, das hochmoderne Firmenhauptquartier aus Stahlträgern und grünem Glas am Rande der Stadt Sialkot, könnte auch in jedem Technologiepark der USA stehen. Im Radius von dreißig Kilometern um „SAGA City“ hat die Firma seit 1996 zehn große Fabriken gebaut, für jeweils 500 erwachsene Fußballnäher. Fünf weitere Fabriken sollen bis Anfang nächsten Jahres entstehen.

Voller Stolz führt Dr. Faiz Sha, einer der SAGA-Direktoren, den Besucher durch eine dieser Fabriken. Eine helle und saubere große Halle, in der 500 Männer – zum Teil auf kleinen Stühlen oder Teppichen – sitzen und Fußbälle nähen. Hier läßt sich auch für die Inspektoren der ILO, die in unregelmäßigen Abständen vorbeischauen, leicht und schnell feststellen, daß keine Kinder unter 14 Jahren Fußbälle nähen. Rijk van Harlem, der niederländische Chefinspektor der ILO, lobt die Arbeitsbedingungen in den SAGA-Fabriken: Ventilatoren an Decke und Wänden der Halle sorgen für eine angenehme Temperatur. Es gibt keine Fliegen wie in der Lehmhütte der Familie Kubra; statt dessen Waschbecken und saubere Toiletten, eine freundliche Kantine, eine kleine Krankenstation sowie einen Laden mit Grundnahrungsmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfs zu nicht überteuerten Preisen.

Auf Befragen äußern sich die Männer, die früher alle in ihren Dörfern für die SAGA oder andere Unternehmen genäht haben, überwiegend zufrieden mit ihrer jetzigen Arbeitssituation. Einige beschweren sich allerdings über die langen An- und Abfahrtswege und bedauern, daß sie den ganzen Tag von ihren Frauen und Familien getrennt sind.

Diese Klage berührt ein zentrales Problem der Atlanta-Vereinbarung und des durch sie beschleunigten Strukturwandels. Bislang weitgehend intakte dörfliche Sozialstrukturen werden auseinandergerissen. Und vor allem: Die Frauen, bis Anfang 1997 rund 58 Prozent aller FußballnäherInnen im Distrikt Sialkot, müssen diese Arbeit zunehmend aufgeben. Denn auf Grund der strengen islamischen Sitten in Pakistan ist es für die meisten Frauen, insbesondere aus ländlichen Regionen, nicht möglich, außerhalb ihrer Häuser zu arbeiten oder gar in großen Fabriken außerhalb ihrer Dörfer – und schon gar nicht unter einem Dach mit fremden Männern. Von den bislang zehn Nähfabriken der SAGA ist nur eine für Frauen bestimmt – und mit 274 überwiegend jungen Frauen bislang nur zur Hälfte ausgelastet. Andere Firmen haben noch überhaupt kein Nähzentrum für Frauen errichtet.

Das zweite zentrale Problem ist der Einnahmeausfall, der den Familien entsteht, wenn ihre Kinder keine Näharbeit mehr erhalten. Die Atlanta-Vereinbarung sieht dafür keine Kompensation vor. Die Stücklöhne für die über 14jährigen Näher und Näherinnen wurden nicht erhöht. Für die Fußbälle, die jetzt ohne Kinderarbeit und unter verbesserten sozialen Verhältnissen hergestellt werden, zahlen die Konzerne den pakistanischen Exporteuren keinen höheren Preis.

Doch höhere Exportpreise und damit gerechtere Löhne wären durchaus möglich. Seit Mitte April bietet das Wuppertaler Handelshaus GEPA und seine Partner im europäischen „Fair Trade“-Verbund hochwertige Turnier- und Trainingsfußbälle an. Dafür zahlt der Verbund der Herstellerfirma Talon in Sialkot – ebenfalls Unterzeichner der Atlanta-Vereinbarung – einen um 25 Prozent erhöhten Exportpreis. Talon hat sich vertraglich verpflichtet, den Hauptteil dieses Zuschlags für eine 35prozentige Erhöhung der Stücklöhne einzusetzen.

Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß zwei über 14jährige Mitglieder einer Familie bei Vollzeitarbeit monatlich zusammen mindestens 6.000 Rupien verdienen. Damit können sie der ganzen Familie ein Auskommen sichern. Der Rest des Zuschlags dient zur Finanzierung von Sozial- und Rentenversicherungen für die NäherInnen, Mikrokrediten für einkommensschwache Familien sowie von Dorfschulen.

160.000 Fußbälle hat der europäische „Fair Trade“-Verbund zunächst einmal bei Talon bestellt. In Deutschland werden diese Bälle, die den Richtlinien von FIFA und DFB entsprechen, unter dem Motto „Fair Trade – Fair Play“ unter anderem über die Dritte-Welt-Läden angeboten: der Turnierball für 79, der Trainingsball für 39 Mark. Anders als Kaffee, Tee oder Schokolade aus den Dritte-Welt-Läden sind diese Bälle für den Endverbraucher nicht teurer als vergleichbare Lederkugeln anderer Hersteller. Dies wurde möglich, weil Talon die Bälle für den europäischen „Fair Trade“-Verbund unter Ausschaltung aller Subunternehmer und Zwischenhändler direkt von in kleinen dörflichen Werkstätten Beschäftigten nähen läßt.

Bezugsadresse und Informationen: GEPA, Gewerbepark Wagner, Bruch 4, 42279 Wuppertal, Fon 0202/266 83-32, Fax 0202/266 83-10