Quotenkiller Menschenrechte

■ 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – doch noch immer oszilliert sie zwischen Rhetorik und Realität. Für die Unterzeichnerstaaten zwar verbindlich, ist sie doch gesetzlich nicht bindend: So verdrängt Infotainment zunehmend die TV-Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen. Und Artikel 19, die Garantie der „Informations- und Meinungsfreiheit“, erweist sich als äußerst dehnungsfähig.

Im Januar 1997 traf sich eine Gruppe von Menschenrechtsexperten aus fünf Kontinenten im Zentrum für Menschenrechte der UN in Genf. Die Ergebnissse ihrer Beratungen wurden in einem Programm mit dem Titel „Mehr als 50 Ideen zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der Allgemeinen Menschenrechtserklärung“ zusammengefaßt. Im Kapitel über die Medien und das Internet heißt es: „Für Programme über Menschenrechtsthemen sollen in Rundfunk und Fernsehen feste Sendeplätze eingerichtet werden.“

Jeder weiß, daß die Kritik an menschenrechtsverletzenden Regimes für globale Medienunternehmen problematisch ist. Einer der prominentesten Fälle war kürzlich ein Eingriff von Rupert Murdoch, der seinen Verlag Harper Collins daran hinderte, „East and West“, die Erinnerungen des ehemaligen Gouverneurs von Hongkong, Chris Patten, zu publizieren. Doch neben solchen Fällen halten sich im Medienalltag hartnäckig andere wirkungsvolle Mechanismen, die eine kritische Berichterstattung über Menschenrechtsthemen entweder mit allzu großer Vorsicht angehen oder gleich ganz vernachlässigen.

Das „Oxford Dictionary of New Words“ von 1997 weist den ersten offiziellen Gebrauch des Wortes „Infotainment“ in einem Artikel der britischen Zeitung Independent am 6. Januar 1992 nach. Dort heißt es: „Wir haben Boulevard-Fernsehen (Nachrichten als Infotainment), wir haben Trash-Fernsehen (Talkshows als Lebensbeichte), und jetzt kriegen wir auch noch Reality-Fernsehen, Bullen-und-Banditen-Shows.“ Das Oxford-Dictionary fügt hinzu: „Das Wort (Infotainment) wird oft pejorativ für Nachrichtensendungen gebraucht, die den Unterhaltungsaspekt auf Kosten von Information betonen.“

Seither hat es weitere Wortschöpfungen gegeben: „infomercials“ (gebildet aus information und commercials – Werbung), „docusoaps“ (aus documentaries – Dokumentarfilme und soaps – Seifenopern; Anm d.Ü.) und anderen, die den Charakter neuer Sendungstypen beschreiben sollen, die verstärkt in den Mittelpunkt der Fernsehprogramme rücken. Diese Begriffe verweisen deutlich auf die Zwänge, die bestimmte Programme verdrängen und durch andere, völlig unterschiedliche Produkte ersetzen.

Nehmen wir ein Beispiel aus Danny Schecters Buch mit dem treffenden Titel „The More You Watch, The Less You Know“ (Seven Stories Press; etwa: „Je mehr man sieht, desto weniger weiß man“). Der Autor hat lange für US-amerikanische Medien gearbeitet, unter anderem acht Jahre als Redakteur der ABC- Sendung „20/20“. Als unabhängiger Produzent versuchte er anschließend, den Hunderten von amerikanischen Fernseh- und Kabelsendern Menschenrechtsthemen anzubieten. „Wir haben unsere Serie ,Rights and Wrongs' produziert, weil wir der Meinung waren, daß nach dem Ende des Kalten Krieges die Menschenrechte das Thema wären, und weil ihnen weder die großen privaten Sender noch das öffentliche Fernsehen genügend Aufmerksamkeit widmeten“, so Schecter. „Doch das Gegenteil war der Fall: Die Sender schlossen zunehmend ihre Auslandsbüros und konzentrierten sich auf Boulevard- Journalismus.“

Weder die Privaten noch die Öffentlichen zeigten besonderes Interesse an Schecters Filmen (mit Ausnahme von Faith and Values, einem kleinen Kabelsender, der sich mit religiösen Themen beschäftigt und nur wenige Zuschauer erreicht). Der öffentliche Sender Public Broadcasting Service (PBS), 1967 als Alternative zu kommerziellen Anbietern gegründet, war nicht einmal bereit, sich ein Pilotprogramm anzusehen. Die Direktoren verwarfen es vielmehr mit dem Argument, Menschenrechte seien als „Organisationsprinzip einer Fernsehserie ungeeignet“. Doch trotz der Ablehnung aus den Chefetagen und permanenter finanzieller Krisen wurden zwischen 1993 und 1996 insgesamt 62 halbstündige Folgen der Serie auf 140 regionalen PBS-Sendern ausgestrahlt. Am Ende mußte man wegen Finanzierungsproblemen aufgeben.

Schecter hat viel dabei gelernt, unter anderem, daß nur ein bestimmter Sendungstyp akzeptabel war. Er zitiert einen ehemaligen Kabelsenderchef, der sich zum Verkaufsmanager gewandelt hatte: „Bloß keine Philosophie, einfach nur draufhalten. Alle Direktoren, die ich von früher noch kenne, haben einen Horror davor, Standpunkt zu beziehen – liberale wie konservative. Sie wollen es unterhaltsam und dynamisch.“

Auch Beispiele aus Großbritannien zeigen diesen Trend weg von kontroversen Themen – überhaupt von allem, was keine hohen Einschaltquoten garantiert. Im Januar 1998 veröffentlichte die „Kampagne für Qualitätsfernsehen“ einen Bericht über „Dokumentationen auf ITV“ (unabhängiger britischer Fernsehsender). Darin wurde der Abwärtstrend der Ausstrahlung langer Dokumentationsfilme festgestellt, die der produzierende Sender Network First zuvor dienstags um 22.40 Uhr gezeigt hatte: Von insgesamt 34 Stunden, die 1994 noch gesendet wurden, waren 1997 nur noch 18 Stunden dieses Sendetyps übriggeblieben. Auch die Themen waren enger gefaßt als früher; man konzentrierte sich zunehmend auf Verbrechen und Inlandsthemen, der alte Anspruch, „ein Fenster zur Welt“ zu sein, war aufgegeben worden.

Ab Mitte 1997 erhielt Network First überhaupt keine neuen Aufträge mehr. Statt dessen wurde eine lose Folge von Dokumentationen über Nachbarschaftsprobleme zu der Serie „Neighbours from Hell“ zusammengefaßt, die immerhin elf Millionen Zuschauer erreichte; eine Folgeserie nach demselben Strickmuster sollte diesen Erfolg wiederholen.

ITV reagierte damit auch auf den Erfolg sogenannter Dokumentationssoaps der Konkurrentin BBC, die mit ihren Serien „Airport“, „Driving Scool“, „Hotel“ oder aus dem exotischen Alltag von Arzt- und Tierartzpraxen den ITV-Dokumentationen Millionen von Zuschauern abspenstig gemacht hatte.

Auch der Abwärtstrend politischer Programme bei ITV ist alarmierend. „World in Action“ ist die letzte einer ehemals wichtigen Gruppe von Sendungen (wie „This Week“, „First Tuesday“), die Korruptionsfälle aufdeckten, Fehlurteile abbauten und gesellschaftspolitische Debatten in Gang setzten. Inzwischen ist auch die Zukunft dieser Sendung unsicher. Man hört, ITV wolle ein konsumentenorientierteres Programm. Der neue Redakteur von „World in Action“, Jeff Anderson, ließ verlauten: „Man kann nicht nur Randthemen behandeln. Wir müssen den Mainstream bedienen, Themen aufgreifen, die den Durchschnittszuschauer interessieren: Gesundheit, Verbrechen, Geld, gesellschaftliche Themen – alles, was Standard jeder populären Zeitung ist.“ Das sind wenig erbauliche Aussichten für politische Programme, mit denen ITV zahllose Ehrungen und Preise einheimste. Es scheint, daß der Sendeplatz von „World in Action“ zur Prime time von anderen Programmen profitabler gefüllt werden kann, die Sendung also ohnehin in die späten Nachtstunden verbannt wird.

Es genügt nicht, diese Fälle nur als ein Beispiel für das typische Schicksal von Sendungen zu sehen, die sich kritisch mit schwierigen Themen in geographisch oft weit entfernten Ländern beschäftigen, und ihre Abwicklung als den üblichen „Qualitätsverlust“ zu beschreiben. Dieser Begriff verschleiert mehr, als er illustriert. Wenn wir wissen wollen, was in den Medien los ist, müssen wir uns die konkreten Strukturen und Prozesse genauer anschauen, die das, was wir zu sehen und zu hören bekommen, prägen.

In seinem Buch „TV und Medienmacht“ (dt.: Edition Suhrkamp, 1997; Anm.d.Red.) schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu: „In den Redaktionsstuben und Verlagen regiert der Geist von Auflagenzahl und Einschaltquote..., der Markt wird mehr und mehr als legitimes Mittel der Legitimation akzeptiert.“ Das schafft einen „Informationsteufelskreis“ und bedeutet eine unsichtbare Zensur aller Randthemen und –beiträge, an denen eine Mehrheit aller potentiellen Zuschauer/Leser/Hörer nicht interessiert ist.

Die gegenwärtige und künftige Form der Medien ist weit von dem entfernt, was sich die Autoren der 1948 formulierten Allgemeinen Menschenrechtserklärung darunter vorgestellt hatten. Damals wollte man in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland neue Formen von Medienorganisation und –eigentum zu schaffen, die Pluralität garantieren und ermöglichen sollten, Medien als demokratische Instrumente einzusetzen – im Gegensatz zu ihrem Mißbrauch als Propagandamittel unter den Nazis.

Heute sind wir jedoch Zeugen einschneidender Veränderungen bezüglich der Medienreichweite und –vielfalt geworden. In seinem Buch „The Media Monopoly“ verweist Ben Bagdikian auf die zunehmende Geschwindigkeit des Konzentrationsprozesses in den Medien. Im Vorwort zur fünften Ausgabe stellt er fest: „Bei der Erstauflage dieses Buches 1983 war die größte Elefantenhochzeit der Geschichte ein 340-Millionen-Dollar-Deal: als die Zeitungsgruppe Cannet Company die Combined Communications Corporation, Besitzerin von Werbeflächen, Zeitungen und Rundfunksendern, aufkaufte. Als sich 1996 Disney mit ABC/Cap Cities zusammentat, ging es um einen 56mal höheren Betrag: 19 Milliarden Dollar.“

Solche Megadeals nähren Befürchtungen über den enormen Einfluß, den diese Konzerne auf demokratische Prozesse haben, da sie die politische und ökonomische Richtung von Ländern beeinflussen und sich für ihre eigenen Strukturen stark machen. Bagdikian stellt fest: „Bürgern eine Wahl zwischen Meinungen und Informationen zu lassen, heißt, ihnen auch politisch die Wahl zu lassen. Hat ein Land nur noch stark kontrollierte Informationen, wird es bald auch nur noch eine stark kontrollierte Politik haben.“

In deutlichem Gegensatz zu dieser eher düsteren Zukunftsvision wird derzeit allseits für die Vision einer außerordentlich positiven Medienzukunft geworben, die primär auf Technologie basiert: Wir haben das Internet, das uns alternative Informationsquellen erschließt, und das digitale Fernsehen, mit seinen Hunderten von Kanälen, wird bald das elektronische Gegenstück eines gutsortierten Buch- oder Zeitungsladens sein, in dem wir einfach nur aussuchen müssen, worüber wir mehr und genaueres wissen wollen.

Aber stimmt das? Die Geschichte zeigt, daß neue Medientechnologien zwar große Umwälzungen mit sich bringen, deren Entwicklung letztlich davon abhängt, wer sie besitzt und an ihren Schalthebeln sitzt. Und die Realität zeigt, daß weder in den USA noch anderswo besonders viel Raum für Neulinge ist. Bestehende Telekommunikations-, Computer- und Mediengesellschaften gehen Allianzen, Joint-ventures und Zusammenschlüsse ein und sorgen dafür, daß sie unter sich bleiben. Reichweite, Qualität und Pluralität der neuen Medien bleiben somit auch weiterhin von Marktkriterien bestimmt.

Menschenrechte haben wenig Marktchancen. Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird am deutlichsten und in aller Öffentlichkeit von despotischen Regimes verletzt, die ihre eigenen wie auch internationale Mediengesellschaften, die mit ihnen ins Geschäft kommen wollen, beherrschen oder manipulieren. In den industrialisierten Ländern, in denen das Fernsehen ein so einflußreiches Kommunikationsmittel geworden ist, bleiben die Menschen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas – also etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung – auf dem Bildschirm fast unsichtbar. Die Konkurrenz zwischen den neuen Kanälen bedeutet nichts anderes, als daß die schon jetzt eingeschränkte Berichterstattung noch knapper und oberflächlicher wird. Diese Unterlassung und die weitgehend nichtöffentlichen Prozesse, die sie produzieren, bedürfen dringend unserer Aufmerksamkeit. Granville Williams

Der Autor lehrt Medienpolitik und Journalismus an der Uni von Huddersfield, Nordengland und gibt die Zeitung Free Press heraus, die eine Kampagne für „Presse- und Rundfunkfreiheit“ führt.