Das Knirschen der Schritte im Kies

Gesellschaftskritik light und deutsche Autoren auf der Suche nach Entsetzlichem: In den Romanen von Roland Koch, Tim Staffel und Jutta Heinrich lauern hinter der Banalität des Alltags Kindesmißbrauch, Gewaltexzesse und geklonte Menschen  ■ Von Jörg Magenau

Die Idylle ist vom Untergang umstellt. In der Wirklichkeit und mehr noch in der Literatur. Kaum lagert sich ein Grüppchen malerisch zum Picknick unterm Apfelbaum, sucht man schon nach Anzeichen des heraufziehenden Gewitters oder nach verborgenen Umweltgiften. Eine Idylle wäre doch reizlos, bliebe es bei schlichter Schönheit ohne doppelten Boden.

Der Kölner Autor Roland Koch, Jahrgang 1959, ist ein versierter Idylliker. Sein Roman „Das braune Mädchen“ klingt schon im Titel wie ein ländliches Genrebild und liest sich auch so: Ein junges Paar, der Ich-Erzähler Konrad und seine Frau Fanny, kauft sich ein abgeschiedenes Haus im Bergischen Land und zieht, getrieben von der Sehnsucht nach einem Leben ohne Hektik und polternde Nachbarn, in die Waldeinsamkeit. Doch bald wird deutlich, daß an ihrem neuen Glück etwas nicht stimmt. Fanny wird immer launischer und unberechenbarer, Konrad begibt sich auf ausgedehnte Wanderungen. Im Garten taucht mehrmals eine schemenhafte kleine Gestalt auf und versetzt Fanny, die mittlerweile schwanger ist, in Angst. Sie läßt deshalb Kies ums Haus herum ausstreuen, um jede Annäherung hören zu können.

Im Horrorfilm ginge es nun vermutlich mit dem Knirschen der Schritte des Mörders im Kiesbett weiter. Roland Koch spielt jedoch mit anderen Mythen und Märchenmotiven. Das „braune Mädchen“ ist irgendwo zwischen Gretel und Goethes Mignon angesiedelt: Giulia – so heißt die Kleine – haust gretelig in einer Waldhütte bei ihrer hexenhaften Großmutter, die andauernd italienisch vor sich hin schimpft, und ist mignonhaft mit südlicher Herkunft ausgestattet: ein hochsensibles, künstlerisch begabtes Naturkind.

Nicht genug mit dieser Reverenz an Goethe, variiert Koch auch noch Motive der „Wahlverwandtschaften“. Denn Konrad fühlt sich magisch angezogen von Giulia, die er als eine Geistesverwandte erkennt. Mit ihr kommt auch die Erkenntnis, daß das bisherige zweisame Leben mit Fanny nicht länger erstrebenswert ist. Aber auch Fanny, die ihre feindselige Haltung gegen Giulia schließlich aufgibt und einwilligt, sie im Haus aufzunehmen, bringt eine Art Wahlverwandten ein: Dr. Moritz, ein Kinderpsychologe, der Giulia in zitternde Angst versetzt.

Roland Koch baut die Spannung geschickt auf: Glück und Gefahr sind nie zu unterscheiden, und so wird aus der an sich recht unspektakulären Beziehungsgeschichte ein dezenter Thriller. Wie sein klassisches Vorbild nutzt Koch das Wetter und die wechselnden Jahreszeiten als dramatische Mittel und als Spiegel innerer Zustände. Daß das Ende ziemlich banal und allzu zeitgemäß auf Kindesmißbrauch und einen Kinderpornoring hinausläuft, kann die Souveränität dieser im besten Sinne konventionellen Erzählung nicht beschädigen. Immerhin korrespondiert das Mißbrauchsthema mit Konrads sublimem Begehren, das die Erzählung grundiert. Nachdem die schreckliche Wahrheit enthüllt ist, steigt Konrad in den Keller und zählt ratlos die Äpfel, die Giulia dort wie einen Schatz hütet und hortet. So leise, so genau läßt sich Traurigkeit erzählen.

Ein radikalerer Gegensatz zur Idylle als ein „Terrordrom“ läßt sich kaum denken. So heißt der erste Roman von Tim Staffel, 1965 in Kassel geboren und heute in Berlin lebend. Er sucht nicht die Abgeschiedenheit, sondern das Chaos der Großstadt, und statt umständlich doppelte Böden zu bauen, haut er lieber gleich mit beiden Fäusten drauf. Berlin zum Jahreswechsel 1999/2000. Alles Scheiße oder, wie es im Klappentext heißt, ein „Worst-case-Szenario“. Aus der Kanalisation am Kottbusser Damm quillt die Kacke, die Bäume stürzen um im Sturm, ein alter Mann haut mit einem zerfetzten Hund um sich und wird von einem Sechzehnjährigen abgestochen. Und so weiter.

Staffels Roman liest sich wie die größenwahnsinnige Phantasie eines durchgeknallten Autonomen. Im Mittelpunkt steht Lars, ein melancholischer Wichtigtuer, der alle Menschen, die ihm begegnen, grundsätzlich für verachtenswerte Idioten hält. Seltsamerweise scheint die sowieso schon völlig kaputte Gesellschaft seine pseudophilosophischen Botschaften, die er mit der Post verschickt und mit „V“ unterzeichnet, irgendwie ernst zu nehmen. Autonome glauben ja immer, man nähme sie wahnsinnig ernst. Als Lars im Yorck-Kino zufällig Zeuge eines Amoklaufes wird, läßt er eines seiner Schreiben fallen, so daß sich fortan alle Gewalttäter auf ihn berufen und mit seinem Zeichen agieren.

Dann gibt es da noch Tom. Er ist ein böser Medienmensch, der naturgemäß seine Frau schlägt und die Sekretärin vögelt. Er beutet die alltägliche Gewalt aus für die Quote seines Pay-TV-Senders, der dann auch maßgeblich daran beteiligt ist, daß in der Mitte Berlins, hinter neuen Mauern, ein „Terrordrom“ errichtet wird – ein Sperrbezirk, in dem alles erlaubt ist. Der Andrang ist gewaltig. Alle finden es echt geil, sich gegenseitig umzubringen. Man muß das nicht genauer wissen.

„Terrordrom“ soll vermutlich super gesellschaftskritisch sein. Interessant ist der in atemlosem Stakkato hingeschriebene Roman aber nur in seinem Scheitern: Die Perpetuierung von Schmutz und Gewalt produziert nichts als Langeweile. Das Entsetzen, das auf jeder Seite beschworen wird, ist zu drastisch ausgeleuchtet, als daß es berühren könnte. Eine Ansammlung von pseudocoolen Überlebenskämpfern macht noch lange keinen apokalyptischen Großstadtroman. So abstoßend das Geschehen, so sehr ist diesem Text doch anzumerken, wie er gefallen und gekauft sein will. Berlin, Medien, Gewalt, 2000: Fertig ist die junge deutsche Literatur.

Mit komplizierteren Ängsten arbeitet die Hamburger Autorin Jutta Heinrich in „Unheimliche Reise“. Heinrich, bekannt geworden mit ihrem feministischen Roman „Das Geschlecht der Gedanken“ (1977), knüpft damit explizit an „Frankenstein“ an – nicht nur, indem sie ein Motto von Mary Wollstonecraft Shelley voranstellt. „Niemand wird mir glauben“, beginnt die Ich- Erzählerin ihren Bericht im genretypischen Tonfall einer, die gerade noch einmal davongekommen ist. Doch im Unterschied zum historischen Reverenzwerk ist es nun eine Frau, die sich aufmacht, das Geheimnis aus dem Genlabor zu enthüllen.

Sie, eine Autorin in der Schaffenskrise, ist keine Heldin. Und wenn sie von sich sagt: „Nichts bin ich als eine Vermesserin der Ereignisse, eine Architektin, die auf dem Reißbrett jeden Schritt vorausberechnet“ – dann entspricht dieses Bild mehr ihrer Projektion als der Wirklichkeit. Eher durch Zufall wird sie zur Ermittlerin, und sie agiert eben nicht in der Angeberpose des männlichen Detektivs, sondern in der Reduktion auf unmittelbares Erleben und Erleiden der Verhältnisse. Erst am Ende, als sie von einer wild gewordenen Meute im Wald fast totgeprügelt wurde und in einem mysteriösen Krankenhaus am Rand der Stadt mehr überwacht als behandelt wird, ergreift sie die Initiative. So geht es in dieser Geschichte auch um eine Emanzipation, um das Überwinden der Angst, um eine Reise ins eigene Ich.

Am Anfang steigt die Erzählerin aus einem Zug, weil sie einem älteren, schweigenden Ehepaar folgt, das ihre Neugier weckte. So landet sie in einer Kleinstadt, deren geduckte Feindseligkeit schon auf dem Bahnhofsvorplatz unübersehbar ist: mürrische Taxifahrer, menschenleere Straßen, seltsame Andeutungen. Die größte Stärke des Romans liegt in den Passagen, in denen Jutta Heinrich dieses kleinstädtische Geflecht aus Angst, Schweigen, Aggressivität, Mißtrauen und Fremdenfeindlichkeit beschreibt: Wie da eine Frau die Haustür öffnet, mit ausdruckslosem Blick herausschaut und auf den Zuruf „Guten Tag!“ die Tür wortlos wieder schließt. Oder wie die Männerrunde in der Kneipe feindselig der Fremden entgegenblickt und der Wirt nur widerstrebend Bier ausschenkt. Aber es bleibt nicht bei diesen Szenen deutscher Normalität. Im Hotel wird eine Schwangere von zwei Männern getreten und an den Haaren über den Boden geschleift. Die Polizei weigert sich, eine Anzeige entgegenzunehmen, und verdächtigt statt dessen die Erzählerin als Querulantin. Auf der Straße rotten sich seltsame, tierisch anmutende Wesen zusammen, und schließlich wird ein Ausländer – ein Pole? – erschlagen. Ist das normal?

Man könnte meinen, das Gebräu aus sexistischer Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Kommunikationslosigkeit und Tierschutzbewegung sei ein bißchen viel für ein einziges Buch. Doch zumindest im ersten Teil funktioniert die Mischung, weil alles auf ein zugrundeliegendes, schreckliches Geheimnis verweist und weil darin eine leise Ironie zu erkennen ist, ein postmodernes Spiel mit bekannten Motiven und Ängsten. Immer stärker kippt die Erzählung dann ins Surreale, in Traumbilder, wo wirkliches Erleben und Wahn nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die Erzählerin muß auch diese Regionen durchreisen, ehe sie schließlich, mit einem Tonband bewaffnet, ins Allerheiligste der Wissenschaft vordringt, in die Geheimkammer der Stadt, dorthin, wo an einem affenhaften „neuen Menschen“ gebastelt wird.

Die Enthüllung am Ende ist eine Enttäuschung, genau wie bei Roland Koch: viel zu banal, um all die Abgründe der Geschichte und möglicher Wirklichkeit zu deuten. Aus dem traumhaften Erleben drängt sich da ein nur noch mühsam gezügelter Wille zur Gesellschaftskritik in den Vordergrund, als wäre er der eigentliche Homunculus, den es zu verbergen gegolten hätte. Wahrscheinlich sind alle denkbaren Geheimnisse so, und man ließe sie besser dort, wo sie angesiedelt sind: am Rand der Stadt und unaufgeklärt. Wenigstens in der Literatur.

Roland Koch: „Das braune Mädchen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 188 Seiten, 36 DM

Tim Staffel: „Terrordrom“. Ammann Verlag, Zürich 1998. 220 Seiten, 29,80 DM

Jutta Heinrich: „Unheimliche Reise“. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998. 210 Seiten, 36DM