■ Was kann die undogmatische Linke aus dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ lernen? Nichts, was sie nicht schon vorher wußte
: Die Legende von der linken Lebenslüge

Der französische Verleger des „Schwarzbuch des Kommunismus“ prophezeite den Untergang der KPF innerhalb von vier Wochen nach Erscheinen des Buches. Das war Reklame, wie vieles an dem Buch, das außer 550 Seiten seriöser Forschung (Nicolas Werth, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Luis Margolin) über 400 Seiten Texte enthält, die nur propagandistisches Niveau erreichen. Eine Spitzenleistung in dieser Hinsicht bietet Ehrhart Neubert, der die Fakten so zurüstet, daß „die kommunistische Herrschaft 1917 bis 1991“ zwischen Pankow und Peking aussieht wie „aus einem Guß“. Ein sehr deutscher Rigorismus.

Was hat das „Schwarzbuch“ in Frankreich bewegt? Die KPF besteht weiter und regiert weiter mit. Ein parlamentarisches Mätzchen des ehemaligen französischen Erziehungsministers François Bayrou endete mit einer Bauchlandung: Bayrou glaubte eine Sternstunde erwischt zu haben, als er einen direkten Zusammenhang herstellte zwischen den im „Schwarzbuch“ analysierten Verbrechen kommunistischer Regimes und den drei Kommunisten in der Regierung Jospin.

Trotzdem ist die Frage berechtigt, was die Publikation des „Schwarzbuchs“ Linke angeht. Man könnte sich die Antwort leicht machen, indem man sie ins Psychologische verlegt. Dabei schließt man aus der Tatsache, daß es vor allem ehemalige Stalinisten und Maoisten sind, die dieses Buch wie eine Erleuchtung begrüßen, auf ein Bedürfnis nach später Reue und späten Schuldbekenntnissen bei den Ultras von gestern. Diese kompensierten heute ihre alte ideologische Verblendung mit einer neuen und tauschen die Trugbilder vom „real existierenden Sozialismus“ und Kommunismus durch das vernagelte Weltbild „Totalitarismus“ aus.

Mit der Absage an ihre politische Herkunft und ihre Irrwege unter dem Banner des Campus- Maoismus verabschieden Ex-Stalinisten und Ex-Maoisten heute Sozialismus, Marx und alles Linke sowieso. Wer noch 1976 und als Volljähriger schrieb: „Wir wollen die Ausbeuter enteignen, die Ausbeuterherrschaft stürzen. Dazu müssen wir die Ausbeuterklasse mitsamt ihrem Staat schlagen, über sie die Diktatur ausüben und die Demokratie, die Herrschaft des Volkes errichten“, muß offenbar 20 Jahre später aus Gründen psychischer Entlastung auf den „antitotalitären Konsens“, „den Westen“ oder „den Markt“ schwören. Der Ex-Maoist und Herausgeber des „Schwarzbuchs“ – Stephane Courtois – räumte freimütig ein: „Was ich heute als Historiker mache, hängt eng mit meiner militanten Vergangenheit zusammen.“

Aussichtsreicher als der psychologische ist jedoch der politische Zugang zum Problem. Was bringt das Buch Neues? Was bedeutet die großspurige Bemerkung, es werde „den Blick auf unser Jahrhundert verändern?“ Selbst die wissenschaftlichen Beiträge enthüllen nichts Neues, belegen aber vieles besser als bisher und formulieren Forschungslücken präziser. Als Linke konnte und mußte man sich schon seit langem damit auseinandersetzen, was die Umsetzung erst der leninistischen, dann der stalinistischen und maoistischen Dogmen in die Praxis bedeutete.

Dank der Bücher von Karl Kautsky (1919), Leo Trotzki (1928), Maurice Merleau-Ponty (1947), Victor Serge (1951), David Rousset (1951), Albert Camus (1951) und vieler anderer war man frühzeitig – wenn auch unzureichend – über den Terror und die Verbrechen kommunistischer Regimes orientiert. Nicht einmal in Frankreich, wo die bornierteste KP im Westen agierte, gab es eine „Mauer des Schweigens“, wie der Herausgeber des „Schwarzbuchs“ behauptet. Natürlich lehnte die KPF jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ab und diskreditierte alle Kritiker, so gut es eben ging. Aber nach dem Aufstand in Ungarn 1956 und definitiv nach der militärischen Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 hatte die KPF jeden Kredit verloren – unter Linken, Liberalen und Intellektuellen.

Auch nach 1968 hatte man zu begründen, warum man sich trotz halbherziger Entstalinisierung, maoistischer „Kulturrevolution“, kambodschanischem Steinzeitkommunismus und Dissidentenverfolgung als Linker verstand und zur Godesberger Sozialdemokratie ebenso Distanz hielt wie zu den maoistischen Studentenparteien, SED-Filialen und anderen Avantgarden des Spießbürgertums.

Die Gretchenfrage, was denn nun „links“ heute bedeute, kehrt in jeder dritten Saison wieder. Das ist eine Art Gesellschaftsspiel geworden, wie die Partyfrage, was wahlweise „die“ Linke, „die“ Pazifisten oder einfach „wir“ denn unternommen hätten, um diesen oder jenen Bürgerkrieg zu verhindern oder wenigstens zu beenden. „Die“ Linke, „die“ Pazifisten und „wir“ kommandieren keine Regimenter, und im Unterschied zum Papst verfügen „die“ Linke, „die“ Pazifisten und „wir“ noch nicht einmal über die Wahrheit, die Unfehlbarkeit oder auch nur eine Bibel.

Linke unterschiedlicher Herkunft und Statur treibt die Vorstellung einer auf Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität beruhenden Gesellschaft um. Für deren Realisierung hatten „die“ Linken nie ein Rezept, dafür viele Vorstellungen von Leben, Arbeit und Politik jenseits von Konsumismus, Realpolitik, Karriere und Geschäft. Bei der Begründung dieser Vorstellungen beziehen sich Linke auf Gesellschaftstheorien, die sich dem doppelten Anspruch stellen, die kapitalistische Gesellschaft zu erklären und zu kritisieren.

Entgegen aller Gerüchte gab und gibt es außerhalb der auf den Religionsersatz „Marxismus-Leninismus“ eingeschworenen Parteien und Gruppen kaum zurechnungsfähige linke Orgnisationen, die immer noch behaupten, ihr politisches Programm allein mit den Schriften von Marx und Engels oder gar deren Übersetzung durch Lenin, Stalin oder Mao bestreiten zu können. Ein wenig bunter war die theoretische Ausstattung der undogmatischen sozialistischen Linken schon lange.

Was heutige Linke aus der bitteren Bilanz kommunistischer Alleinherrschaft nicht genug lernen können, ist der notwendige und unbedingte Respekt vor Menschenrechten und demokratisch legitimierten Institutionen. Mit den periodisch als Gretchenfrage an „die“ Linken adressierten Loyalitäts-, Schuld- und Reuezumutungen sollten diese dazu gebracht werden, den unbedingten Respekt auszudehnen auf das christliche Abendland, den Westen, die Zivilisation, die Marktwirtschaft oder am liebsten gleich den Kapitalismus. Rudolf Walther